Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Alle Fotos © Monika und Carl Forster

Aktuelle Aufführungen

Das fruchtbare und gestresste Haus Almaviva

LE NOZZE DI FIGARO
(Wolfgang Amadeus Mozart)

Besuch am
15. November 2015
(Premiere)

 

 

Staatsoper Hamburg

Wenn die Frauen in Diensten des Hauses Almaviva im ersten Akt ihr Loblied auf den Grafen anstimmen, ist die Welt noch in Ordnung: jede von ihnen hält ihrem Dienstherrn frohgemut sein eigenes Baby oder zumindest den von ihm geschwängerten Bauch entgegen. Der Graf wird also geliebt, aber er will immer mehr, er bewirbt sich bei Susanna und selbst von der jungen Barbarina wünscht er sich Aufmerksamkeit.

Wenn er sich dann mit anderen Bediensteten seines Hauses, Bartolo, Marcellina und Basilio, zusammentut, um Druck auf Susanna auszuüben, oder zumindest deren bevorstehende Hochzeit mit Figaro aufzuschieben, kommt Stress auf. Denn Susanna und schließlich durch ihre Einweisung auch Figaro bauen Gegendruck auf, um ihre Liebe zu leben. Im Finale des zweiten Aktes ist die Ruhe vorbei, die Parteien gehen aufeinander los, mögen vom existenziellen Recht auf ihre Vision vom Leben und Lieben nicht ablassen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Danach verbleibt dauerhaft eine angespannte und verwirrte Stimmung. Die Handlung wird von Anbeginn von den Akteuren in Kostüm und Maske ähnlich einer Commedia dell’Arte gespielt. Alle Handelnden sind nach dem Finale des zweiten Aktes im Versteck- und Verwirrspiel immer gegenwärtig und können nicht anders, als ihren Trieben und den verzwickten Liebeswirrungen obsessiv zu folgen. Es entfaltet sich der magische Kosmos einer Sommernacht, in dem jeder alles beobachtet, aber nicht begreift. Die erotische Doppelbödigkeit zwischen Susanna und dem Grafen ist für beide nicht klar nachzuvollziehen. Keiner kann Realität und Traum auseinanderhalten.

Foto © Monika und Carl Forster

Bedrohungen wie die Rachelüste des Grafen in seiner Szene im dritten Akt, bei der er in einer körperlichen Auseinandersetzung mit Figaro plötzlich wie in einem Gewalttraum den abgeschlagenen und blutigen Kopf seines Dieners – wie Salome den des Jochanaan – in Händen hält, werden bei „Wiederauferstehung“ Figaros mit großem Gelächter aller auf der Bühne Beteiligten quittiert, einem Lachen, das jedoch eine hohe und nachhaltige Spannung beinhaltet.

Figaro schart im vierten Akt alle Männer gegen das Unrecht der Frauen um sich – es wirkt wie ein verzweifelter Aufstand der zu kurz Gekommenen, der auch hier durch das heftige Lachen aller beendet wird.

Alle diese und weitere Handlungselemente werden im Herheimschen Fadenkreuz eng geführt und entlassen die Welt nicht mehr in die alte, ruhige Ordnung. Es ist jedoch diese erhöhte Temperatur der menschlichen Auseinandersetzung, die erst die Balance ermöglicht, durch welche reale, geträumte oder sonst wie empfundene Widersprüche und Konflikte gewaltfrei bewältigt werden können. Wenn das keine politische Botschaft ist! Es handelt sich jedoch nicht um eine soziale Revolution, sondern um das Austragen von Rivalitäten, die im Erotischen wurzeln. Hoffentlich nicht auf Kosten der Fruchtbarkeit … 

Erst die Bitte um Verzeihung des Grafen seiner Contessa gegenüber hebt das Treiben auf eine neue Dimension, die jedoch auch nur so fragil ist wie die Realität der Menschen zuvor. Und so wird es immer bleiben. Auch darin mag man neuen Trost empfinden.

Die Videofilm-Künstler Momme Hinrichs und Torge Moller haben während der Ouvertüre und zum Schluss der Oper ein einfallsreiches Spiel der fliegenden, laufenden und einander verfolgenden Strichmännchen von Mann und Frau aus den Noten der Partitur inszeniert, das das Haus mehrfach zum unbeschwerten Lachen bringt. Christof Hetzer hat eine über und über von Notenseiten bestückte, den ganzen Bühnenraum ausfüllende, nach hinten sich verengende Musiklaube gebaut, die durch viele Notenlinien zusammengehalten wird. Es ist die sichtbar gemachte Musik, aus der heraus die Vielschichtigkeit der Menschen hier erfahrbar gemacht wird. Das Thema wird schließlich in den Kostümen von Gesine Völlm fortgesetzt: alle Personen der Handlung tragen Kostüme mit Notenmotiven, nur farblich unterschiedlich unterlegt. Das Licht von Andreas Hofer rundet diese geschlossene Teamleistung ab, bei der man bereit sein muss, ein hoch stilisiertes Erscheinungsbild mit vielen archetypischen Formaten zu goutieren. Ob die Produktion in ihrer ausgefeilten Personenführung und anspruchsvollen bühnentechnischen Handwerklichkeit wirklich repertoiretauglich ist, wird sich im Betrieb zeigen müssen.

Das gräfliche Paar ist mit jungen Sängern besetzt: Iulia Maria Dan, noch unter 30 Jahre alt, vertritt gesanglich außergewöhnlich und mit der Schönheit ihres Alters gesegnet eine bezaubernde Gräfin, deren spätere Reife sie noch zu anderen Darstellungstiefen führen mag. Dasselbe gilt für Kartal Karagedik, ein Graf mit ungestümem, darstellerisch ausbaufähigem Potenzial. Die Susanna der Katerina Tretyakova ist der Star des Abends mit dem kultiviertesten Gesang und souveräner Darstellung einer überlegenen Frau, bei der die Handlungsfäden, solange sie im Konzept noch existieren, zusammen laufen. Ihr Partner Figaro, mit Wilhelm Schwinghammer kongenial besetzt, erfüllt gesanglich und darstellerisch alle Facetten des Ehemanns, der mit einer energischen Frau im Leben noch wachsen kann. Dorottya Láng als Cherubino findet den richtigen Klang und Habitus des frühreifen Don-Giovanni-Vorläufers. Katja Pieweck als Marcellina, Jürgen Sacher als Don Basilio, Peter Gaillard als Don Curzio, Tigran Martirossian als Don Bartolo, Franz Mayer als Antonio und Christina Gansch als Barbarina runden als Ensemblemitglieder des Hauses das Personal der Verirrungen perfekt ab. Der Chor unter Eberhard Friedrich erfüllte alle Aufgaben souverän.

Das Philharmonische Staatsorchester bietet einen differenzierten, abwechslungsreichen und in der Dynamik feingliedrigen Vortrag, wie man ihn bei Mozart in diesem Hause lange nicht gehört hat.

Großer Applaus und Bravorufe für alle Sängerdarsteller der Hauptrollen, am stärksten bei der Susanna von Tretyakova. Uneingeschränkter Zuspruch mit vielen Bravorufen für das gesamte Leitungsteam und den Dirigenten. Schon nach dem Finale des zweiten Aktes ein kollektiver Bravo-Stoßseufzer des Publikums als Erlösung von der letzten Mozart-da-Ponte-Inszenierung des Hauses, Don Giovanni unter Simone Young und Doris Dörrie, bei der unter den Hanseaten unübliche Proteststürme seinerzeit die Premiere mehrfach an den Rand des Abbruchs führten. Dieses Machwerk als eines der schwersten Traumata der letzten zehn Jahre darf damit hoffentlich als überwunden gelten.

Achim Dombrowski