Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Jörg Landsberg

Aktuelle Aufführungen

Türkenoper trifft auf Performance

DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL
(Gintersdorfer/Klaßen)

Besuch am
18. Juni 2016
(Einmaliges Gastspiel)

 

 

Kampnagel, Hamburg

Eine Performance, keine Oper. Und doch wird einer der größten Klassiker der Operngeschichte, Mozarts Entführung aus dem Serail als Basis, Ideengeber, Anreger und Aufreger genutzt, um alle möglichen Fragen an die Welt zu stellen, die in diesem Werk heute oder gestern, tatsächlich oder potenziell enthalten sind.

In einem wilden Format mit dem Untertitel Les robots ne connaissent pas le blues – sinngemäß: Roboter kennen keinen Blues – unter Mitwirkung so unterschiedlicher Partner wie der deutsch-ivorischen Performance-Kombo Gintersdorfer und Klaßen, dem jungen, kreativen Opernregisseur Benedikt von Peter und den Bremer Philharmonikern mit Markus Poschner wird über zwei Stunden lang ein Feuerwerk von Reflexionen, komischen Begegnungen, klassischem Gesang und elektronischer Musik abgefeuert.  Dabei kommen weder afrikanische Tanzrhythmen noch die Musik Mozarts zu kurz, wenn die Oper auch unter Weglassung einer Reihe von Musiknummern gegeben wird.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Die Handlungselemente der Textvorlage werden immer wieder zu überraschenden Reflexionen und Fragestellungen genutzt. So zum Beispiel gibt die fantastische Sängerin der Konstanze, Nicole Chevalier, quasi nebenbei und während der hochschwierigen Marternarie eine Lehrstunde zum Operngesang. So erzählt uns Patrick Zielke, der den Osmin darstellt, über seine eigenen, quasi rituellen Handlungen an Tagen, an denen er eine Vorstellung an der Oper zu singen hat.

Foto © Knut Klaßen

Zu den existenzielleren Themen gehört die Hinterfragung der in der Oper so bürgerlich gepriesenen, monogamen Ehebeziehungen der erwartungsfrohen, europäischen Paare. Das geschieht jedoch nicht durch musiktheoretische oder regiebezogene Ausdeutungen, sondern ganz schlicht durch die Einspielung und das Ausspielen der Pet Shop Boys mit ihrem Song Love is a bourgeois construct.

Das wirkt dann quasi wie eine Antwort auf Strömungen und Überzeugungen in der Entstehungszeit des Werkes, in der man die „Türkenoper“ zur Hundertjahrfeier der Vertreibung der Türken vor den Toren Wiens und Europas mit deutlichem moralischem Überlegenheitsgefühl gegen den Islam und die Unterdrückung der Vielweiberei ausstattete.
Immer wieder durchdringen sich afrikanische und europäische Sichtweisen und Prägungen. So halten die Künstler von der Elfenbeinküste mitunter die Spannungen der europäischen Sprach- und Darstellungsformen nur dadurch aus, dass sie selbst ihre Eindrücke spontan in afrikanische Rhythmen und Tanzaktionen übertragen und ihre europäischen Partner hinreißend hineinziehen in ihre Aktionen.
Die überraschende, lustvolle und immer wieder auch auf das Publikum übergreifende Aktion trägt den Abend. Begegnung findet hier auch statt durch nicht-diskursiven, körperlichen Austausch, der alle mitreißt. Ein Miteinander, das sich organisch-friedlich ergibt. Ein tieferes, intellektuell gesteuertes Verstehen ist da nicht immer notwendig. Staunen und Akzeptanz der Andersartigkeit sind entscheidend. Und doch auch werden zentrale Fragen der Oper und ihrer Entstehungszeit so neu belebt und anders gestellt und ins Bewusstsein gerufen. Sie müssen auch nicht beantwortet werden – konnten sie es je?

Einen gewissen Erzählzusammenhang für diese bunten Abläufe, die Handlung der Oper, Gedankensplitter, und „Laut-auf-der Bühne-Denken“ gibt Hauke Heumann dem Abend durch seine Moderation. Er erklärt Handlungselemente der Oper, stellt Fragen, lädt Mitwirkende zu ihren Beiträgen ein oder reflektiert seine eigenen, höchst subjektiven Erwägungen.

Außerdem dirigiert er auch neugierige Teile des Publikums von den Stuhlreihen zur Vorstellungsfläche oder zurück, die auf Kampnagel ohne einen Orchestergraben oder andere Abgrenzungen erreicht werden können. Mitgehen und das Wandern zwischen den Welten ist ausdrücklich erwünscht.

Ganz am Ende der Spielfläche sitzt zentral das Orchester mit seinem Dirigenten Markus Poschner. Das Orchester gibt gewissermaßen den traditionellen Anker vor. Es wird zwischendurch nicht immer benötigt – die Mitglieder wandeln zusammen mit Teilen des Publikums entlang der Spielfläche oder verabschieden sich zeitweise ganz vom Geschehen.

Neben den Opernsängern Hoyjong Kim als Belmonte und Nerita Pokvytyte als Blonde performen Eric Parfait Francis, Taregue alias Skelly und Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star. Alle Mitwirkenden werden auf dem Programmzettel als Gruppe der Protagonisten genannt, keine Unterscheidung in die Welt der „klassischen“ oder der Performance-Kultur – ein Gemeinschaftswerk eben.

Nachdem einzelne Gäste das Haus schnell irritiert verlassen haben, genießt das Publikum sichtlich den Abend mit all seinen bunten, spontanen und kryptischen Erscheinungsformen und applaudiert allen Beteiligten lange und begeistert. 

Achim Dombrowski