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Kulturmagazin mit Charakter

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Alle Fotos © Frank Stefan Kimmel

Aktuelle Aufführungen

Coole Beerdigung

DIE BESTE BEERDIGUNG DER WELT
(Quartett Plus 1)

Besuch am
10. Dezember 2015
(Premiere am 8. Dezember 2015)

 

 

Deutsches Theater Göttingen

Die beste Beerdigung der Welt? Das ist wohl die, die gar nicht stattfinden muss … Das Quartett Plus 1, eine Streichergruppe mit vier jungen Damen, sieht das anders: Eine Beerdigung ist ein Fest – quasi die natürliche Fortsetzung des Geburtstages – und gehört gefeiert. So wie der renommierte Architekt und Erbauer des Gelsenkirchener Musiktheaters Werner Ruhnau über viele Jahre seine Geburtstage als „fröhliche Beerdigung“ inszenierte und schließlich auch 2015 seine Beisetzung in der Künstler-Nekropole Kassel als „festlichen Abschied“ in einem „Spielraum“ begehen ließ.

Die Atmosphäre in der kleinen Studiobühne DT-2 im Deutschen Theater Göttingen ist familiär, in einer kleinen Gruppe von Besuchern ist man fast unter sich. Zum Einlass mischen sich vier schwarz gewandete Akteure unter die Zuschauer und bitten sie, ihre Schuhe auszuziehen – für Kaltfüßler halten sie warme Socken bereit. Offensichtlich ist „Leisetreten“ gefragt. Zettel werden verteilt und die Besucher gebeten, darauf zu notieren, wovon sie gern Abschied nehmen möchten. Der Studioraum ist abgedunkelt, in schwarz gehalten, mitten im Raum stehen zwei gläserne Stelen, auf denen eine Glasvase und ein elektrisches Gerät zu sehen sind, von der Decke hängen vier Streichinstrumente. Die Akteure platzieren die Besucher in einem großen Kreis auf den Boden. Der Ton wird leise. Im Kreis vor den Zuschauern liegen glänzend verpackte „Geschenke“ unterschiedlicher Größe. Zuckerkügelchen werden weitergereicht. Eine changierende, unsichere Atmosphäre zwischen gruppendynamischer Sitzung und Bibelkreis. Mit Hilfe einer Zuschauerin öffnet eine Akteurin ein großes Paket und entfaltet ein weißes Tuch – Tischtuch, Leichentuch? – Das Tuch wird mit trockenen Streublumen und bunten Zuckerperlen, Liebesperlen, geschmückt. Erst als eine überlange, schwarzgoldene Trauerschleife über das Tuch drapiert wird, ist klar: Wohl doch ein Abschied, eine Trauerfeier. Am Rande produzieren Zuschauer inzwischen mit Hilfe einer Akteurin einen Kuchenteig, füllen ihn in eine Kuchenform und schieben ihn in das elektrische Gerät auf der Stele. Aus roten Flaschenkästen erhalten die Besucher Wasserflaschen. Erst nach etwa 20 Minuten erklingt der erste Streicherton, dann leises, wortloses Summen. Die Akteure schminken sich grell schwarzweiß und verzieren ihre Gesichter mit Zuckerperlen. Immer wieder werden die Besucher in das Geschehen einbezogen und aktiviert, ob beim Flaschenblasen, dem Gehen im Kreis, dem Knabbern am jetzt garen Geburtstagskuchen oder dem Sammeln von Wasser in der großen Glaskugel – rätselhaft und wahrscheinlich … bedeutungsvoll.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

In gleichförmigen, rhythmisch harten Streicherpassagen produzieren die Quartetter ostinate Streicherklänge, in denen keine Melodie, kein Anfang, kein Ende zu erkennen ist, und die plötzlich abreißen. „Was nimmst du mit auf deine ewige Reise? Warum heißt Sterben auch Einschlafen? Wie hört es sich an, wenn wir zu Erde werden?“ Eigentlich naheliegende, aber doch völlig ungewöhnliche Fragen, die diese jungen Damen bei ihrer Geburtstags-Beerdigungsfeier stellen und jedem die Antwort selbst überlassen. Dabei sind sie häufig ganz einfach: Der Wunsch auf dem Los-Werden-Zettel – ganz einfach: den Zettel zerreißen und frohgemut in die Luft werfen – schon ist man ihn los.

Kristina van de Sand, Lisa Stepf, Kathrina Pfänder und Katharina Hülsmann - Foto © Frank Stefan Kimmel

Ein weiteres Mal erweist sich eine schwedische Kinderbuch-Vorlage als bühnentauglich. Verena Ries´ Regiekonzept nimmt Ideen aus dem Kinderbuch des schwedischen Erfolgsautors  Ulf Nilsson und der Illustratorin Eva Eriksson Die besten Beerdigungen der Welt auf und überträgt sie, gewagt und gelungen, auf den Menschen. Katharina Pfänder und Kristina van de Sand, Violine, Kathrina Hülsmann, Viola, und Lisa Stepf, Violoncello, erweisen sich als flexible, wagemutige Protagonisten, die das Leitbild „Streichquartett“ längst virtuos hinter sich gelassen haben und mit unkonventioneller Bühnenpräsenz die Besucher in ihren Bann ziehen. Auch für Ries´ Inszenierung gilt das Verlagsversprechen: „Jeder wird sich darin selbst entdecken und dabei unsentimental an den befreienden Umgang mit dem Tod zu Kinderzeiten erinnert“.

Der performative Abend verzichtet allerdings weitgehend auf die Möglichkeiten des Streichquartetts, was mancher Besucher bedauert. Die von anderen Aufführungen bekannte instrumentale Souveränität der Akteure kommt in dieser Performance, die ihren eigenen Reiz hat, deutlich zu kurz.

So endet diese Fest-Zusammenkunft zwischen Beerdigungskuchen und Wasservase beim Klingelzeichen des Backofens unvermittelt und offen mit einem Abriss der Streicherpassagen – offen für die Interpretation jedes einzelnen, wirklich spannend. Die Schlussspannung hält sich mehrere Minuten, bis sehr zögerlich ein intensiver Schlussapplaus einsetzt und die Trauer-Fest-Gemeinde sich in viele Gesprächsgruppen auflöst. Der Abend ist noch längst nicht zu Ende –  wie das richtigen Leben und sein nächster Geburtstag.

Horst Dichanz