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Foto © Monika Rittershaus

Aktuelle Aufführungen

Wahre Kunst lässt kalt

PIERROT LUNAIRE/ANNA TOLL
(Arnold Schönberg/Michael Langemann)

Besuch am
7. Juli 2016
(Premiere)

 

 

Oper Frankfurt, Bockenheimer Depot

Pierrot lunaire gilt uneingeschränkt als epochales Werk. Mit diesem Melodram überraschte der gerade 38-jährige Arnold Schönberg 1912 sein in nachromantischen Klängen schwelgendes Publikum mit einer Tonfreiheit, die grenzenlos erschien und ein im Sinne seines Zeitgenossen Sigmund Freud physisch spürbares, von tiefenpsychologischer Scharfsicht bestimmtes Erleben auslöste. Sieht man mit dieser Erwartung, weil nacheinander an einem Abend und als Uraufführung geboten, Anna Toll oder die Liebe der Treue des 1983 geborenen Michael Langemann, so kann man nur konstatieren, dass dem gegenwärtigen Komponistennachwuchs jegliche Idee für Neues oder gar Unerhörtes abhandengekommen ist. Beide Werke bilden den Saisonabschluss, den die Oper Frankfurt seit 2007 zelebriert. Vereint im Veranstaltungstitel Oper Finale will man das Publikum mit Extravaganzen in die Saisonpause entlassen. Konkret heißt das, alles jenseits des Mainstreams ist gewollt. Das alleine ist absolut mutig und verdient höchste Aufmerksamkeit. In diesem Jahr gilt das Augenmerk der Zweiten Wiener Schule mit Sonderkonzerten, einem Symposium zum Musiktheater der zweiten Wiener Schule mit dem Titel Wahre Kunst ist kalt. und Premieren, zunächst Alban Bergs Wozzek und oben genannte Schönberg-Langemann-Premieren an einem Abend in Frankfurts Experimentierlabor für alte und neue Opernwerke, dem Bockenheimer Depot.

Mit Schönbergs Pierrot lunaire beginnt der Abend. Die Atmosphäre ist launig, eine Bar, wie sie zum Frankfurter Westend passt, eine kleine Band, eine Sängerin im silberfarben glitzernden Frack. Während sie ihre Songs in das Mikro haucht, denkt man an Sternbergs Blauen Engel und genießt die Szenerie. An einem Tisch vergnügt sich eine Animierdame mit einem Gast, daneben sitzt, unverkennbar, der ideenlose Schreiberling. Er klappt sein Notizbuch auf, kritzelt ein paar Zeilen, genießt die Ablenkungen, kritzelt wieder. Alles verläuft ganz stereotyp und klischeeartig, bis die Musik kippt und sich die kreisrunde Bühne dreht. Regisseurin Dorothea Kirschbaum platziert die dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Lieder des Pierrot lunaire in ebenso vielen phantasmagorischen Kurzszenen mit Sängerin-Stimme, Tänzern und Statisten. Kirschbaum zeigt die Stimme als personifizierten Wahn im Kopf des Schriftstellers. Schrill, scharf, unbarmherzig hämmert diese Domina-Stimme auf ihn ein, beschwört den Pierrot als vielgesichtige Gestalt herauf, presst sie dem von Lust und Leidenschaft, Melancholie, Zwängen und unerfüllten Sehnsüchten Gepeinigten auf das schreckensbleiche Gesicht. Traumwandlerisch sicher und souverän agiert Laura Aikin als Stimme, David Laera gelingt die stumme Rolle des jungen Schriftstellers mitleiderregend bravourös. Scheinbar beiläufig erklingt die kammermusikalische Begleitung, die wesentlich die Dramaturgie des Ablaufs garantiert. Nach fünfzig Minuten ist der große Applaus für alle Beteiligten wohl verdient.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Nach einer längeren Umbaupause folgt die Uraufführung von Langemanns im Auftrag der Oper Frankfurt entwickelten Operette in sieben Szenen, basierend auf Arthur Schnitzlers Anatol und Peter Altenbergs Märchen des Lebens, die Langemann letztendlich zu Anna Toll oder die Liebe der Treue inspirierte.

Foto © Monika Rittershaus

Bühnenbildner Bernhard Niechotz hat sein Bühnenbild kompatibel angelegt. Wie zu Schönbergs Pierrot nutzt er auch hier im zweiten Teil des Abends ein drehbares Bühnenrund mit aufsteigender treppenartiger Plateau-Anordnung. Anstelle von Hochstühlen, Baraufbauten und weiteren Requisiten stehen nun breite Doppelbetten auf den Stufen. Überall liegen Paare zusammen. Nur Baron Diebl und seine Frau Illona schlafen getrennt. Er mutmaßt eine Affäre, zwingt sie, den Liebhaber zu einem Rendezvouz zu locken, doch sie widersetzt sich, warnt ihn. Diebl sinniert über wahre Liebe, wahre Treue, Sehnsucht, Verzweiflung, greift zum Revolver, drückt aber nicht ab. Dieses Szenario spielt sich in den nachfolgenden Kurzszenen in so vielen Variationen, wie sich Paare auf der Bühne tummeln, ab. Die finale Schlacht mit Sahnetorte ist vorprogrammiert, aber auch die Ermüdung schon nach den ersten 15 von insgesamt 90 Minuten. Regisseur Hans Walter Richter beglückt die Zuschauer mit einer „reality-soap“-Operettensicht auf das Männlein-Weiblein-Wechselspiel mit belang- und folgenlosen One-Night-Stands einer modernen, dekadenten Gesellschaft, die sich nur um sich selbst dreht und sich dabei verliert. Sein Versuch, dem dauerhaft ermüdenden wie faden Hin und Her in letzter Minute eine Moral zu verpassen, indem er in der Abschlussszene zeigt, wie sich Männer und Frauen im Gegenüber wiederspiegeln und damit endgültig jeglichen Ansatz an Individualität ausschließen, rettet nicht wirklich aus der Langatmigkeit. Immerhin folgt er damit der Spur des Komponisten. Langemann ist ein geschickter Arrangeur von Anklängen an Bekanntem, nicht zu verwechseln mit Eklektizismus. Weitaus intelligenter gelingt es ihm, aus bekannten Motiven soweit Neues zu kreieren, dass es nicht mehr als bereits Vorhandenes definiert werden kann, aber aufgrund der Erinnerungsspuren, die man allenthalben herauszuhören glaubt, auch nicht als wirklich Neues. Das strapaziert, ermüdet und geht schlussendlich auf die durchweg spielvergnügt und stimmlich uneingeschränkt überzeugend agierenden Sängerinnen, Sänger, Schauspieler und Tänzer, unter ihnen Nora Friedrichs, Elizabeth Reiter, Nina Tarandek, Ludwig Mittelhammer, Simon Bode, Magnús Baldvinsson und Dominic Betz. Sie alle erhalten viel zu wenig Applaus. Nikolai Petersen, bislang Solorepetitor und ab der neuen Spielzeit Kapellmeister an der Oper Frankfurt, leitet das Opern- und Museumsorchester sicher und beweist in seiner unaufgeregten Art ein hervorragendes Gespür für das jeweils Charakteristische der in Langemanns Operette vereinten vielfältigen Stile.

Christiane Franke