Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Karina Ter Ovanesova

Aktuelle Aufführungen

Zu wenig gewusst

RETURN
(Jelena Ivanovich)

Besuch am
17. Dezember 2015
(Premiere)

 

 

Schauspiel Essen, Box

Die Box ist eine Studiobühne des Schauspiels Essen, die gleich gegenüber dem Grillo-Theater liegt. Dort soll heute eine Tanztheaterproduktion Premiere haben. Und wie es sich für modernes Tanztheater gehört, trägt sie den kryptischen Titel reTURN. Eine Produktion, die, so ist in der Vorankündigung zu lesen, an den Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert von Saša Stanišic angelehnt ist. Schlaue Menschen, die den Roman nicht, wohl aber moderne Theaterproduktionen kennen, winken an dieser Stelle gelassen ab. Menschen, die sich von dem Begriff Tanztheater verführen lassen, bekommen an der Kasse einen Brief ausgehändigt, der an „Für Dir“ adressiert ist. Der Brief stammt aus dem Jahr 1993 und richtet sich an eine Asija, berichtet von ersten Flüchtlingserfahrungen in Essen und ist von A. unterzeichnet. Kenner des Romans wissen jetzt, dass es sich bei A. um den Protagonisten des Romans, Aleksandar, und um seine imaginäre Angebetete handelt. Unkundige nehmen einen ziemlich ungewöhnlichen Kulturen-Clash zur Kenntnis. Jugoslawische Jungs, denen das Silvesterfest unbekannt ist, das wäre zu traurig, um wahr zu sein.

Der Beginn der eigentlichen Aufführung ist für 20 Uhr angesetzt. Zwanzig Minuten später beginnt der Einlass. Eine Erklärung oder gar Entschuldigung braucht man in Essen dafür nicht. Das ist unprofessionell und über die Maßen ärgerlich. Autofahrer beispielsweise zahlen für die Verspätung, weil in der Zeit der Weihnachtsmärkte an kostenlose oder mindestens preiswerte Parkplätze überhaupt nicht zu denken ist. Da hilft dann auch der vor Beginn der Aufführung angebotene Pflaumenschnaps gerade gar nicht.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Die Bühne ist spärlich, aber effektiv eingerichtet. Im Hintergrund eine Projektionsfläche, vor der so etwas wie eine Vielzweckkiste aufgebaut ist. Sie dient als Sitzbank, Tanzfläche, Stauraum und zusätzliche Projektionsfläche für eine Dia-Show. Links vorn ist eine Tafel angebracht, auf der im Laufe der einstündigen Aufführung ein paar Anmerkungen verschriftlicht werden. Darunter ein Plastik-Schwein à la Disney auf Rädern, auf dessen Kopf ein Block mit so etwas wie Kapitelangaben angebracht ist. Im Bühnenraum kommen verschiedene Requisiten zum Einsatz, die nach Bedarf herbeigeholt werden.

Foto © Karina Ter Ovanesova

Wie es sich für ein Kammerspiel gehört, verwischen die Einsatzgebiete. Jelena Ivanovic zeichnet für Regie und Choreografie verantwortlich, das Licht besorgt Daniela Frenzen, für die Musik und den Ton aus dem Lautsprecher sorgt Markus Schmiedel. Auf der Bühne tragen die Tänzerin Yara Eid und die Schauspielerin Silvia Weiskopf ihren Teil zum Gelingen eines sehr poetischen Musiktheaters bei. Der Begriff der Tanztheaterproduktion wird schnell ad absurdum geführt. Der Tanz trägt hier allenfalls aromatisierend zum Gesamteindruck bei. Es ist ein Stück wunderbares Musiktheater. Lange Strecken werden der Übertragung eines Fußballspiels aus dem Off eingeräumt. Eines Fußballspiels, das sich während einer der Kampfpausen in einem der Jugoslawienkriege zwischen den militärischen Gegnern ereignet. Eine der stärksten Stellen des Buchs. Und das kann gefallen – wenn man es gelesen hat. Dann versteht man auch ohne Schwierigkeiten die teils drastische Sprache.

Andernfalls wird sich auch kaum der sinnfällige Titel erschließen. Die Bewegung auf den verschiedenen historischen Ebenen, die Hinwendung zu den Geschichten des Großvaters und die eigenen vorsichtigen Annäherungen in der Gegenwart verdeutlichen sowohl das „re“ als auch das „turn“. Wer seine Hausaufgaben nicht erledigt und das Buch vor der Aufführung gelesen hat, bekommt wenig Geleit.

Dem helfen dann die Leistungen von Yara Eid und Silvia Weiskopf. Denn die stehen letztlich für sich. Während Eids tänzerische Leistungen eher als l’art pour l’art wirken, bestimmt Weiskopf die Handlung mit hervorragend vorgetragenen Monologen, gleichgültig, wie viel man davon versteht oder nicht.

Am Ende dieser Stunde, die vom Publikum vor allem wegen der Leistung der Protagonistinnen langanhaltend beklatscht wird, geht man als unbelesener Zuschauer mit zwiespältigen Gefühlen in die regnerische Nacht. Hätte man den Roman gelesen haben müssen? Hätte man sich mit den Jugoslawienkriegen im Vorfeld beschäftigen müssen? Oder reichte es, das Schwanken und Austarieren der jungen Leute im Bezug zur Geschichte zu erleben? Für Aufklärung könnte Ivanovic sorgen. Die bleibt stumm. Und das, so viel ist gewiss, ist zu wenig.

Michael S. Zerban