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Kulturmagazin mit Charakter

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Alle Fotos © Saad Hamza

Aktuelle Aufführungen

Wenn Rumpelstilzchen mit dem Schneewittchen

DIE MÄRCHENWELT
ZUR KUR BESTELLT

(Heribert Feckler)

Besuch am
18. Dezember 2015
(Uraufführung)

 

Aalto-Musiktheater Essen

Eine Märchenstunde im Musical-Gewand, flott und witzig, aufwändig dekoriert und inszeniert, zeigt das Essener Aalto-Musiktheater mit der Uraufführung des „Märchicals“ Die Märchenwelt zur Kur bestellt. Auch wenn es für die ganze Familie gedacht ist, sind natürlich vor allem jüngere Besucher angesprochen, die die Uraufführung trotz der stattlichen Spieldauer von zwei Stunden aufmerksam und vergnügt verfolgen.

Viele bekannte Figuren aus der Grimmschen Märchenwelt treffen zusammen, dazu als selbstbewusster Außenseiter aus Hans Christian Andersens Sammlung der Kaiser in seinen „neuen Kleidern“. Schneewittchen, Aschenputtel, Das tapfere Schneiderlein, insgesamt zwölf Figuren fühlen sich vom Märchenstress ausgebrannt und kehren im Sanatorium „Grimm“ ein, um neue Kräfte zu sammeln. Schneewittchen hat keine Lust, ständig in einen Apfel beißen zu müssen, die Froschprinzessin mag keine Frösche mehr an die Wand schmettern, Aschenputtel hat das Stolzieren auf edlen High Heels satt, das tapfere Schneiderlein fühlt sich alles andere als tapfer und Rumpelstilzchen hat keinen Bock auf die Babys fremder Prinzessinnen. Abwechslung tut gut. Nachdem sie ihr Leid geklagt haben, freunden sie sich untereinander an und es kommt zu skurrilen Paarungen. So kann der Kaiser die Dienste des tapferen Schneiderleins gebrauchen und Schneewittchen geht mit Rumpelstilzchen eigene Wege. Raus aus den Klischees und hinein in neue Welten der Fantasie.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Ein pfiffiges Szenario, das Marie-Helen Joël mit ihrem Libretto erschließt. Die engagierte Leiterin der Musiktheaterpädagogik erweist sich als Motor des aufwändig in Szene gesetzten Spektakels, in dem sie zusätzlich auch als Regisseurin und temperamentvolle Darstellerin des Schneewittchens glänzt. Die Dialoge sind durchweg kurzgefasst, so dass der Musik besonders viel Platz eingeräumt wird. Für die musikalische Gestaltung hat Heribert Feckler eine bunte Mischung bekannter und neuer Songs zusammengestellt, die in kunterbunter Stilvielfalt Pop und Rap, Samba und Balladen-Melancholie vereinen. Ausgeführt vom „United Rock Orchestra“, einer fünfköpfigen Band mit Klavier, Keyboard, Gitarre, Bass und Schlagzeug, die nicht nur aktiv agiert, sondern mitunter auch so laut, dass die Textverständlichkeit der Songs bedroht ist. Feckler, der zuletzt die musikalische Gestaltung des Schalke-Oratoriums Kennst du den Mythos…? betreute, leitet das musikalische Geschehen vom Klavier aus, angesiedelt in einer kleinen Ecke des Orchestergrabens. Mehr Platz bleibt nicht, denn Beata Kornatowska zaubert einen so gewaltigen und märchenhaft schönen Märchenwald auf die Bühne, dass die Spielfläche auch noch den größten Teil des Orchestergrabens einnimmt. Zusammen mit ihren einem Märchenbuch entsprungenen Kostümen eine Augenweide für das Auge.

Foto © Saad Hamza

Damit überbrückt sie auch ein Problem, das die Aufführungen von Kinder- und Jugendproduktionen in so großen Sälen wie denen des Aalto-Theaters mit sich bringen. Die Besucher sitzen recht weit entfernt von der Bühne, so dass eine Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern stark begrenzt ist. In diesem Punkt können kleine Spielorte wie die in Köln oder Dortmund ihre Stärken ausspielen. Dafür stehen den großen Bühnen größere technische Möglichkeiten zur Verfügung. Und da hätten die Essener Techniker ruhig noch ein wenig mehr Bühnenzauber versprühen können. Schließlich kann man es im Theater wunderbar donnern und schneien lassen oder Hexenöfen in die Luft jagen.

Dass sich die Regisseurin mit Knalleffekten zurückhält, liegt auch an ihrem Libretto. Denn zu echten Konflikten oder bedrohlichen Situationen wie in den Vorlagen kommt es in dem Musical nicht. Selbst der Wolf hat keine Lust, das Rotkäppchen zu erschrecken. Alle sitzen im gleichen, leck geschlagenen Boot. Spannung muss also aus den inneren Konflikten der Figuren bezogen werden. Das über zwei Stunden lang mit einer Folge noch so bunter Songs erreichen zu können, ist nicht leicht. Dass die Kinder bis zum letzten Ton erstaunlich diszipliniert blieben, zeigt, dass das Konzept von Joël aufgegangen ist: Keine Gewalt in der Handlung, dafür viel Power durch die Musik.

Für dieses Ziel motiviert die Regisseurin ihre Sängercrew auf Tempo. Eine Vorgabe, die das gesamte Ensemble ausnahmslos mit entwaffender Spielfreude annimmt. Angefangen bei Joël selbst, die als turbulentes Schneewittchen die Stoßrichtung angibt. Bekannte Namen zieren den Besetzungszettel. So Christina Clark als Aschenputtel, die großartige Sopranistin, die auch mit Musical-Songs und als Tänzerin überzeugen kann. An frühere Erfolge anknüpfen kann Henrik Wager in der Rolle des eitlen Kaisers ohne Kleider, der sich bereits in Musical-Klassikern wie Jesus Christ Superstar oder Chess bewährt hat. Oder Frank Winkels als Rumpelstilzchen, den man zuletzt im Capitol-Theater als Shrek erleben konnte. Jana Shelley als zickige Froschprinzessin und Tim David Hüning als tapferes Schneiderlein überzeugen in weiteren Hauptrollen ebenso wie die Darsteller von sechs kleineren Partien, die die fetzigen Ensemblesätze vokal unterstützen.

Die fünf Musiker des „United Rock Orchestras“ erweisen sich unter Leitung des Arrangeurs und Pianisten Heribert Feckler als flexibel und dynamisch, stellenweise zu dynamisch reagierende Crew, die den mehr oder weniger Genre-erfahrenen Sängern eine denkbar hilfreiche Stütze bieten.

Auch wenn es sich trotz der phonstarken Gesänge um ein recht leises Stück ohne Gewalt- oder Action-Exzesse handelt und die Dauer von zwei Stunden für kleinere Kinder das zumutbare Limit überschreitet, halten ausnahmslos alle Besucher aufmerksam durch und sparen am Ende nicht mit begeistertem Beifall und Forderungen nach „Zugaben“. Ein Beweis, dass Marie-Helen Joël und ihre Mitstreiter den richtigen Zugang mit ihrem ungewöhnlichen Projekt gefunden haben. 

Pedro Obiera