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Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Wonge Bergmann

Aktuelle Aufführungen

Requiem auf eine zerstörte Welt

EARTH DIVER
(Heinrich Schütz, Nikolaus Brass)

Besuch am
21. September 2016
(Premiere)

 

Ruhrtriennale, Salzlager,
Kokerei Zeche Zollverein Essen

Seid umschlungen“ heißt das Motto der diesjährigen Ruhrtriennale. Ein optimistischer Appell, der in der vorletzten Produktion dieser Saison einen düsteren Dämpfer erhält. Denn Earth Diver, ein Multimedia-Projekt der besonderen Art, entpuppt sich als eindringliches „Requiem“ auf eine Welt, die einer offensichtlich unaufhaltsamen Zerstörung entgegentaumelt. Ausgehend nicht von Naturgewalten oder göttlichen Racheakten, sondern vom Menschen selbst.

Die Welt ist in der Krise. Genauer gesagt, sie ist es immer noch. Denn der Welt ging es vor über 300 Jahren zu Lebzeiten von Heinrich Schütz nicht besser, als der 30-jährige Krieg die damals bekannte Welt an den Rand der Zerstörung drängte. Das flämische Muziektheater Transparent nimmt zusammen mit dem ChorWerk Ruhr die bedrückenden Tatsachen als Ausgangpunkt für die dunkle, wenig Hoffnung ausstrahlende multimediale Kreation Earth Diver, die im Rahmen der Ruhrtriennale im voll besetzten Salzlager der Kokerei Zeche Zollverein mit stürmischem Beifall bedacht wird.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Peter Sloterdijks Vorwurf, „Wir Menschen sind ein unverbesserlicher Ikarus und Frankenstein“, sowie analytische Ansätze des Philosophen Slavoj Žižek bilden für Regisseur Wouter Van Looy und den Autor Paul Verrept die ideelle Basis für ihre 75-minütige Performance. Die Gefahr, dass das Thema kopflastig zerredet werden könnte, bestätigt sich glücklicherweise nicht. Den Ton geben die Musik und die visuellen Video-Botschaften des belgischen Filmemachers Wim Catrysse an.

Foto © Wonge Bergmann

Im musikalischen Zentrum stehen Dank- und Hoffnungsgesänge von Heinrich Schütz, entstanden kurz nach den Erschütterungen durch den 30-jährigen Krieg. Die Gottergebenheit, die aus dessen Musik spricht, wird konterkariert durch düstere, verstörende elektronische Klänge von Nikolaus Brass, die der Schauspieler Phil Minton durch gequälte Schreie noch vertieft. Der moderne, wissende Mensch begehrt zwar auf gegen die Zerstörung der Natur, ist aber nicht bereit, sein Verhalten adäquat zu ändern, um der Katastrophe Einhalt gebieten zu können.

Die fünf von Žižek formulierten Stufen der menschlichen Reaktion auf diesen Prozess bilden das formale Gerüst des Abends: Schock, Zorn, Hoffnung, Depression und Akzeptanz. Das ist gut gemeint. Allerdings ähneln sich die musikalischen Strukturen aller Teile so stark, dass sich die beabsichtigte Differenzierung kaum nachvollziehen lässt.

Und auch die Videoeinblendungen auf vier von allen Plätzen gut einsehbaren Leinwänden, die Wim Catrysse in einem von Gott und der Welt verlassenen Kohlebergwerk in der Nähe von Spitzbergen drehte, sind zwar eindringlich, aber auch recht ähnlich gestaltet. Catrysse und der Regisseur werten das mit einem Kohlekraftwerk verbundene, wirtschaftlich völlig unsinnige Bergwerk, das die wenigen dort ausharrenden Menschen in eisiger Umgebung lediglich krank macht, als Inbegriff der unerbittlichen Uneinsichtigkeit, mit der die Menschen als „Earth Diver“, also als „Erdenbohrer“, die Lebenszentren der Welt zerstören.

Insgesamt präsentiert sich das Projekt als dunkles, lediglich durch die frostigen arktischen Schneelandschaften aufgehelltes globales „Requiem“. Trost, aber keine Rettung spenden die Gesänge von Heinrich Schütz, deren ergebene Haltung Nikolaus Brass mit erfreulichem Einfühlungsvermögen durch pessimistische Klanglandschaften relativiert.

Fast ertappt man sich, dem Weltuntergang mit kulinarischem Genuss zuzuhören, wenn man die barocken Gesänge und die sensiblen zeitgenössischen Töne so makellos und klangschön erleben darf, wie es den Sängerinnen und Sängern des ChorWerks Ruhr unter der Leitung von Florian Helgath gelingt. Abgesehen von der elektronischen Kulisse werden die Stimmen ab und zu lediglich durch drei Musiker der B’Rock Continuo-Gruppe mit Orgel, Kontrabass und Laute unterstützt.

Eine bedenklich stimmende, musikalisch faszinierende, vielleicht etwas langgeratene Analyse des Zustands der Welt.

Pedro Obiera