Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Alle Fotos © Sebastian Hoppe

Aktuelle Aufführungen

Vom Holz zum Mensch

PINOCCHIO
(Bojan Vuletić)

Besuch am
22. November 2015
(Premiere am 15. November 2015)

 

Junges Schauspielhaus Düsseldorf,
Central

Derzeit ist in Düsseldorf ein Stück zu erleben, das in die Theatergeschichte – mindestens der Landeshauptstadt – eingehen könnte. Es entführt den Zuschauer in eine witzige, verspielte, spannende und von neuem Impetus geprägte Welt, in der Holzauge von einer Holzpuppe zu einem Menschenkind wird.

Ende des 19. Jahrhunderts verfasste Carlo Collodi Le avventure di Pinocchio, die Abenteuer von Pinocchio, angeblich ein Kinderbuch, in der Phantasie so überbordend wie sonst vielleicht nur Alice im Wunderland. Es braucht eine Menge Selbstüberschätzung, Überheblichkeit oder Mut, um ein solches Meisterwerk so auf die Bühne zu bringen, dass der besondere Geist, der das Buch durchweht, nicht verloren geht.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Im Jungen Schauspielhaus Düsseldorf haben sich alle Mutigen zusammengefunden, um die Bühnenfassung von Jürgen Popig in der Inszenierung des hocherfahrenen Theaterregisseurs Marcelo Diaz in einen Fantasierausch zu verwandeln, der Erwachsene ab sechs Jahren weit über eine Stunde lang in Atem hält.

Bernhard Schmidt-Hackenberg, Teresa Zschernig und Dominik Paul Weber - Foto © Sebastian Hoppe

Die Sonntagsvorstellung bietet einen echten Vorteil. Dann kommen die lieben Kleinen nicht in Klassenstärke, sondern in Begleitung von Mama und Papa oder noch besser der Großeltern. Und auch die Jüngsten wissen schon, dass eine gewisse Selbstdisziplin hier durchaus von Nutzen ist, was den restlichen Verlauf des Sonntags angeht. Hochkonzentriert und mit größter Ernsthaftigkeit nehmen sie vor der Großen Bühne im Central, dem Ausweichquartier gleich neben dem Hauptbahnhof, Platz.

Anja Furthmann, die auch für die Kostüme zuständig ist, hat die Bühne eingerichtet. Auf einer hölzernen Plattform, die verschiedene Areale wie Sand-, Wasser- oder Geräuschflächen, aber auch Gruben bietet, wird beispielsweise das Haus des Geppetto durch eine Lichtfläche kenntlich gemacht. Auch sonst setzt Wolfgang Wächter sein Licht mit vergleichsweise wenigen Mitteln ausgesprochen wirkungsvoll ein. Hinter der Bühne sind Stangen so aufgehängt, dass sie einen dichten Vorhang bilden. Links und rechts sind Geräuschstationen aufgebaut, die helfen, das musikalische Konzept von Bojan Vuletić umzusetzen. Rund um die Bühne führt in einigen Metern Höhe und einem Neigungswinkel von drei Grad die „Murmelbahn“, eine Art Xylophon, das mit Golfbällen bespielt wird. Allein diese Bühne ist schon alle derzeit existierenden Preise und Ehrungen wert. Und ist doch nur der Ausgangspunkt für eine fantastische Reise.

Collodi hat eine Geschichte geschrieben, in der es von skurrilem Personal nur so wimmelt und die die Ensemble-Stärke des Jungen Schauspielhauses bei Weitem überschreitet. Also sind Mehrfachrollen angesagt. Von der Fee über Tiere, Schüler, eine Grille, einen Polizisten, einen Nachrichtensprecher und viele mehr sind nicht nur die verschiedensten Charaktere, sondern auch die unterschiedlichsten Kostüme gefragt, die mitunter in Sekunden einsetzbar sein müssen. Furthmann hat das im Griff. Vom Grauton aus lassen sich mit glitzernden und einfallsreichen Details all die Fantasiefiguren erschaffen, die Collodi im Sinn hatte.

Die werden mit übermäßiger Spielfreude von den Darstellern aufgeboten. Diaz verlangt ihnen nicht nur verschiedene Rollen, sondern auch den Einsatz in den Geräuschstationen ab. Sie dort zu beobachten, ist mitunter genauso interessant wie die Aktion auf der Bühne. Und eine Anstrengung, die das für seine Präzision viel gelobte Ensemble dann doch allmählich an seine Grenzen bringt. Fällt aber nicht weiter auf. Denn der Glanz entsteht auf der Bühne. Und, man möchte fast sagen, wie immer, kann das Lob nicht hoch genug ausfallen. Jasmina Musić beispielsweise empfiehlt sich gleich in fünf Rollen. Ihr Gesang als Thunfisch – man darf sich das auf der Zunge zergehen lassen – ist zwar vollkommen unverständlich, aber es wird auch gar nicht klar, ob er überhaupt zu verstehen sein soll oder einfach nur Klangkulisse ist. Schön klingt es allemal. Auch Teresa Zschernig überrascht – mit gekonntem Spitzentanz als Fee. Und sorgt für Lacher, wenn sie auch mal ganz plump über die Bühne latscht. Sie ist die gute Gefährtin von Pinocchio. Jonathan Schimmer hat damit nur eine Rolle, aber so spritzig, wie er sie darbietet, ist er damit auch vollauf beschäftigt. Einen eindrucksvollen Geppetto gibt Philip Schlommer. Auch Bernhard Schmidt-Hackenberg und Dominik Paul Weber begeistern mit viel Esprit in ihren jeweils vier Rollen. Nicht zuletzt muss auch noch Klaus-Lothar Peters als Polizist auf die Bühne.

Der ist allerdings viel mehr mit der Musik beschäftigt. An Klavier und Cembalo vervollständigt er das mehr als gelungene Klangkonzept von Vuletić. Da kommen Windmaschinen ebenso zum Einsatz wie Klappern, menschliche Stimmen, Zeitungspapier, Wassereimer und „zerplatzende Noppenfolie“. Quasi en passant erfahren die Zuschauer, wie Geräusche beim Film entstehen. Die Sendung mit der Maus spielt eben auch eine Rolle in der Geschichte, in der Pinocchio schließlich zum Menschenkind wird. Und eng an den Vater gelehnt bleibt, ehe das Licht ausgeht.

In dieser Aufführung erfährt man, warum es Theater gibt. Warum Fernsehunterhaltung überflüssig ist. Und wie man im Leben besser zurechtkommt. So schön ist das, wenn ein Regisseur und sein Team über sich selbst hinauswachsen. Für die kleinen und großen Kinder wird das Musiktheater dieses Sonntags ein unvergessliches Erlebnis bleiben. So viel steht fest.

Michael S. Zerban