Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Klaus Hoffmann

Aktuelle Aufführungen

Deprimierend gut

MORNING
(Simon Stephens)

Besuch am
24. Februar 2016
(Premiere)

 

Forum Freies Theater Düsseldorf,
Jahnstraße

Nach 35 Jahren wechselt Lehrer Michael Stieleke vom Düsseldorfer Goethe-Gymnasium in den Ruhestand. Damit droht der Verlust von Wissen, das nicht so ohne Weiteres zu ersetzen ist: Stieleke verfügt nämlich über eine genauso lange Erfahrung in der Theaterarbeit mit Jugendlichen. Also gründet er im Januar dieses Jahres kurzerhand sein eigenes Ensemble. Bei der Namensgebung beweist der frühere Deutschlehrer erst einmal Fantasielosigkeit: Only ask Valery! zeugt weder von Jugendlichkeit noch von besonderer Sprachgewandtheit. Entgegen anderslautender Auffassung zeigt ein englischer Titel nicht „Internationalität“, sondern schlicht Beliebigkeit.

Zum Einstand gibt es dann immerhin englischen Bezug mit dem Stück Morning des Schriftstellers Simon Stephens, das das jugendliche Ensemble am Forum Freies Theater in Düsseldorf produziert. Neun junge Menschen im Alter von 16 bis 23 Jahren, darunter zwei eigene ehemalige Schüler, hat Stieleke um sich versammelt, um den brutalen und sehr traurigen Stoff zu inszenieren. Die 17-jährige Stephanie steckt in einer ziemlich perspektivlosen Situation. Freund Stephen ist mehr mit seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen beschäftigt. Cat, ihre beste Freundin, wird in den nächsten Tagen die Kleinstadt in der Provinz verlassen, um zu studieren. Ihre krebskranke Mutter liegt im Sterben. Schwester Alex ist mit deren Pflege und ihrem eigenen Leben beschäftigt. Als sei das alles nicht genug, darf sie sich von Freundin Anna auch noch von dem einfühlsamen Jacob vorschwärmen lassen. Wer gefühlt so in der Ecke steht, verbittert, verroht und sucht nach dem großen Befreiungsschlag. Cat und Stephanie verabreden sich, gemeinsam Stephen zu verführen. Ein „flotter Dreier“ Pubertierender? Der Versuch geht für Stephen tödlich aus. Stephanie erschlägt ihn. Es ist nicht der ersehnte Befreiungsschlag, sondern der Absturz in noch größere Hoffnungslosigkeit. Cat verlässt sie, die Mutter stirbt. Wie geht so ein Leben weiter? Stephens verrät es nicht, und auch Regisseur Stieleke lässt das Ende offen. Er hat ohnehin genug damit zu tun, all die Gefühle auf die Bühne zu bringen, ohne die Tiefe des Stücks in einer linearen Handlung verflachen zu lassen. Und das gelingt ihm und seinem Team außerordentlich gut. Die vom Ensemble entwickelte Bühne wird auf wenige Requisiten reduziert. Ein paar Kisten und zwei Graffiti-Säulen von Ugur Kepenek vermitteln die Trostlosigkeit des Umfelds, ein Boxsack gibt Alex die Möglichkeit, mit ihren eigenen Aggressionen umzugehen. Auf der Hinterbühne sind die Instrumente der Band untergebracht. Das Licht von Stefan Heitz beschränkt sich auf Weißlicht und Hell-/Dunkel-Effekte. Bei den Kostümen hat sich das Ensemble für heutige Alltagskleidung entschieden, wenngleich man sich wünscht, dass sich der eine oder andere im wahren Alltagsleben nicht so unglücklich kleidet. Warum alle die Turnschuhe einer jugendlichen Trendmarke tragen, lediglich nach Farben sortiert, erschließt sich nicht. Denn eigentlich sind die doch schon wieder aus der Mode.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Ganz und gar nicht unmodern sind die Leistungen der jungen Schauspieler. Allen voran Abiturientin Greta Behr, die Stephanie verkörpert. „Als ich das Stück gelesen habe, fand ich es sofort geil, obwohl Stephanie zu spielen für mich eine riesige Herausforderung ist. Auch oder gerade weil sie mir in ihrem Wesen so fremd ist“, hat sie im Vorfeld erklärt. Diese Herausforderung bewältigt sie mit Bravour. Diese zynische, kaltherzig lächelnde Stephanie, die nur so selten ihre Schutzfassade durchbricht, um Abgründe der Verzweiflung durchscheinen zu lassen, verlangt eigentlich eine gestandene Schauspielerin. Und genau diese Rolle ist bei Behr bestens aufgehoben. Gleichzeitig bekommt sie Gelegenheit, ihrer zweiten Leidenschaft zu folgen, dem Gesang. Unglücklicherweise versagt hier die Tontechnik total, ihr Mikrofon säuft unter den kraftvollen Klängen der Band vollkommen ab. Späterhin kann Behr a cappella zeigen, dass ihre Stimme durchaus vielversprechende Qualitäten besitzt. Laoise Lenders, gerade mal 17 Jahre alt, spielt brillant und überzeugend eine Cat sowohl als wohlbehütete, angehende Studentin, als hormongetriebene Pubertierende, die sich besonderen sexuellen Situationen willig ausgesetzt sieht als auch als diejenige, die hinterher von nichts gewusst haben will. Ebenso großartig Maximilian Langer, immerhin schon 22 Jahre alt und mit Erfahrungen in einer „freien“ Theatergruppe. Sein Stephen ist so mit seinen eigenen Hormonen und Gefühlen beschäftigt, dass man sich auch als älterer Zuschauer gleich zurückerinnert und – vielleicht auch im Hinblick auf die eigene damalige Einfalt – mit einem schiefen Lächeln im Sitz zurücklehnt. Das muss ein Schauspieler erst mal schaffen.

Greta Behr als Stephanie, Maximilian Langer als Stephen und Laoise Lenders als Cat - Foto © Klaus Hoffmann

Auch Julietta Bandel als Alex, Vivian Hammermüller in der Rolle der Anna und ganz besonders Anton Lesseur als Jacob unterstützen die Hauptrollen ebenso hervorragend wie Zecke Yester Yelegen und Donner Richard Najorka in den Zwischenspielen. Mit Schultheater hat das alles nichts zu tun. Ein mehr als gelungener Einstand eines Jungensembles, das jetzt beweisen muss, dass es über den Tag hinausreicht.

Auch das Forum Freies Theater hat sich hier eindeutig mit Ruhm bekleckert. Wenn es zu den Aufgaben des „alternativen“ Theaters gehört, Zukunftsperspektiven für das Theater aufzuzeigen, dann ist ihm das heute im Wortsinn gelungen – nicht mit preisgekrönten und bis zum Umfallen geförderten Theaterkollektiven, sondern einem Ensemble, das von Enthusiasmus und Freude am Spiel getrieben ist. Bravo.

Der Trend, Theaterstücke zu Musiktheaterstücken zu machen, scheint ungebrochen, auch wenn hier noch die Experimentierphase vorherrscht. Gelungen ist das – abgesehen vom tontechnischen Totalausfall – auch und besonders in Morning. Lea Hildebrand führt an der E-Gitarre akzentuiert durch das Programm, während Lesseur am Schlagzeug und Richard Najorka am Bass sekundieren. Gleichwohl wird wie bei Aufführungen anderer Ensembles deutlich, dass hier das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist. Werke, in denen Musik als nettes Extra verstanden werden, haben sicher keine Zukunft mehr.

Beim Publikum im ausverkauften Saal dürfte es sich vermutlich zu 90 Prozent um Schülerinnen und Schüler des Goethe-Gymnasiums handeln. Das geht in Ordnung. Diszipliniert und hochkonzentriert verfolgen die jungen Leute das Bühnengeschehen, um schließlich langanhaltend und herzlich zu applaudieren. Für die Folgevorstellungen wünscht man sich eine breitere Öffentlichkeit, um diese mehr als gelungene Nachwuchsleistung auch in der gesamten Bürgerschaft ankommen zu lassen.

Michael S. Zerban