Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Fußgängertunnel in Rath - Foto © Opernnetz

Aktuelle Aufführungen

Technikverliebtes Theater

MAZING CITIES
(Ingo Toben)

Besuch am
25. Oktober 2016
(Premiere)

 

Forum Freies Theater Düsseldorf,
Münsterstraße

1944. Englische Flugzeuge legen einen Bombenteppich über den Düsseldorfer Stadtteil Rath. Der zehnjährige Karl Schima hat es gerade noch geschafft. Wie so oft ist er nach dem Bombenalarm losgelaufen, wissend, dass ihm kaum noch zehn Minuten bis zum Angriff bleiben. Hat gerade noch die 72 Stufen in den Bunker nehmen können, im Stollen rund 65 Meter unter der Erde auf einer der Holzbänke Platz gefunden, ehe das Licht verlischt.

Schima ist heute 81 Jahre alt und hat dem Regisseur Ingo Thoben seine Erinnerungen ins Mikrofon gesprochen. Jetzt stehen drei seltsam anmutende Menschen vor dem erhaltenen Bunkereingang am Waldrand. Jeder trägt einen Kopfhörer, der mit einem Tablet verbunden ist. Sie stehen eng zusammen in der fortgeschrittenen Dämmerung. Johanna beleuchtet mit einer Taschenlampe die schweren Quadersteine, in die eine Stahltür eingelassen ist. Julia hält einen „Selfie-Stick“ in der Hand, in den ein Tablet eingespannt ist. Auf dem Monitor ist das Gesicht eines jungen Afghanen hinter einem Mikrofon erkennbar. Die drei haben das Ziel der Route erreicht, was sie nicht wissen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Angefangen hat das alles etwa eine Dreiviertelstunde vorher. In einem leerstehenden Ladenlokal, das das Forum Freies Theater vorübergehend angemietet hat, haben Toben und sein Team eine Art Schaltzentrale eingerichtet. Zwischen Deko-Elementen sind Computer- und andere Technikstationen aufgebaut. Auf einer Leinwand ist offenbar eine Übertragung zu sehen. Denn das Experiment – oder die Performance – findet zeitgleich in Helsinki statt. Und dann geht es in Düsseldorf auch schon los. Ausstattung der ersten Gruppe, Verbindung via Skype mit Shayegh, der in Helsinki sitzt und die Gruppe durch Rath lotsen soll. Wie kaum anders zu erwarten, wird die Gruppe zunächst über die „Hauptstraße“ des Stadtteils, die Westfalenstraße, geschickt. Die Kommunikation mit Shayegh erfolgt auf Englisch, das war vorher so angekündigt, aber technisch so schlecht, dass jeder Dialogversuch in Doppelungen endet. Die Geschichte seiner Flucht, die er der Gruppe erzählt, während die sich – von den Lautsprecherkabeln aneinander gekettet, das Tablet vor sich hertragend – über den Bürgersteig mit seinen zahlreichen Baustellen und entgegenkommenden Passanten windet, ist nur in Fetzen zu verstehen.

Der Eingang zum Bunker - Foto © Opernnetz

Danach gibt es auf die Kopfhörer, was unterschiedliche Zielgruppen vermutlich anders definieren. Der junge Afghane nennt es Musik, Johanna und Julia widersprechen nicht, aber auf die Dauer gehen einem die eintönigen „Computerbeats“ ziemlich auf die Nerven. Den Kopfhörer abzunehmen, traut man sich nicht, weil man die nächsten Anweisungen nicht verpassen will, aber wenn man wenigstens ein Ohr davon befreit, ist es schon eine Erleichterung. Düsseldorf-Rath, der Stadtteil, der an die Nachbarstadt Ratingen grenzt, ist ein Ort, über den es sicher viel zu erzählen gibt. Über das ehemalige Arbeiterviertel könnte man reden, die Rolle, die Konzerne wie Mannesmann oder die Waffenfabrik Rheinmetall hier gespielt haben, über Programme, die die Landesregierung finanziert, um das soziale Leben im Stadtteil zu konsolidieren. Auch die Westfalenstraße ändert ihr Gesicht. In den letzten Jahren haben immer mehr Menschen, deren Vorfahren nicht aus Deutschland stammen, hier Läden eröffnet. Aber: Keine neue Vielfalt, sondern Früchte und Friseure. Muss ja auch nicht schlecht sein. Aber darüber reden kann man. Wenn man sich auskennt. Der Lotse kann sich nur auf sein Wissen aus dem Netz beziehen – er war selbst noch nie vor Ort. Und im Netz steht nicht viel über den Stadtteil. Also lieber Musik. Das Tracking-Programm, das Shayegh anzeigen soll, wo sich die Gruppe befindet, scheint allenfalls ungefähr zu funktionieren. Und so kommen die Anweisungen zögerlich.

Die entgegenkommenden Menschen schauen erstaunt auf die Gruppe, die da mit vorgehaltenem Kleincomputer energisch voranschreitet. Sie können ja nicht wissen, dass Ingo Toben sich mit dem Phänomen „Internet und Stadt“ auseinandersetzt. Eine seiner ersten Erkenntnisse, mit denen er umgehen musste, war, dass die Geflüchteten nach ihren traumatischen Erlebnissen einen ganz anderen Zugang zum Internet haben als die Großstadtkinder, für die das Netz mehr der Suche nach Unterhaltung und Abwechslung dient. In Düsseldorf sitzen keine Geflüchteten an den Mikrofonen, um die Gruppen durch Helsinki zu lotsen. Ein Zufall, erklärt Toben. In Deutschland hatten die Jugendlichen Zeit, in Helsinki sind die Sommerferien länger, in denen die Familien traditionell aufs Land fahren. Die Geflüchteten dürfen nicht aus der Stadt. So haben sich die Konstellationen ergeben.

Der anderthalbstündige Fußmarsch ist also keine Stadtführung. Das weiß die Gruppe nicht. Und sie weiß auch nicht, dass es ausschließlich um den Besuch des Bunkers geht, in dem ein kompletter Stollen für die Mitarbeiter des Waffenfabrikanten Rheinmetall reserviert war, der hier ein großes Gelände einnahm, während die übrigen Bewohner des Stadtteils in den anderen Stollen mussten. Und da wurde, glaubt man Schima, auch keine Ausnahme gemacht. Der Rückweg in zunehmender Dunkelheit lässt die Gemütlichkeit eines Spaziergangs vermissen. Wenigstens regnet es nicht, nur nasskalt ist es. Der Lotse scheint unterdes zusehends die Orientierung zu verlieren. Es geht durch langweilige Straßenzüge. Angeleint an einen Meter Kopfhörer-Leitung, hochkonzentriert, dem anderen nicht auf den Fuß oder in die Hacken zu treten. Shayegh spielt ein Audio zu. Offenbar ein Werbespot des Rüstungsfabrikanten Rheinmetall, der in geradezu zynischer Weise von den Erfolgen seiner Produkte berichtet. Das macht wütend. Weil man sich nicht wehren, nicht entziehen kann, denn es könnten ja noch weitere Anweisungen kommen. Es kommen keine.

Zurück in der ehemaligen Blumenhandlung, werden die Gerätschaften wieder eingesammelt. Damit sind die Gruppenteilnehmer entlassen. Im allgemeinen Trubel – die nächste Gruppe wird bereits eingewiesen, denn insgesamt sind vier Touren in zwei Durchgängen an einem Abend geplant, eine logistische Heldentat – ist kein Raum für Reflexion. Weder für die Gruppenteilnehmer mit ihrem Lotsen oder dem Schaltzentralen-Team noch untereinander.

Aus Tobens Sicht war es ein erfolgreicher Abend. Die Leitungen standen, die Jugendlichen waren mit Feuereifer bei der Sache. Was für die Besucher von Mazing Cities – also etwa „verwundernde Städte“ – übrigbleibt, muss ein jeder, der des Englischen mächtig ist, für sich selbst entscheiden. Denn es gibt weitere Veranstaltungen in den nächsten Tagen. Und da kann jeder seine eigenen Erfahrungen sammeln.

Es ist das edle Vorrecht der so genannten Freien Szene, solche Experimente zu unternehmen. Und da ist es großartig, dass es sie gibt. Aber daraus erwächst auch die Pflicht, die Projekte bis zu Ende zu denken.

Michael S. Zerban