Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Katja Illner

Aktuelle Aufführungen

Zeitlos schön

AND HERE WE MEET
(Alexandra Waierstall)

Besuch am
29. Mai 2016
(work-in-progress)

 

 

Tanzhaus NRW

Letzte Woche war es noch ein work-in-progress, jetzt ist ein Duett daraus geworden“, freut sich Alexandra Waierstall nach der Vorstellung. Seit 2014 ist die Choreografin „factory artist“ am Tanzhaus NRW. Am Status der Residenzkünstlerin freut sie am meisten, dass sie sich ungeachtet irgendwelcher Fördertöpfe künstlerisch frei entwickeln kann. „Ich brauche derzeit keine Konzepte zu schreiben, die erst in zwei Jahren gefördert werden“, sagt sie und beschreibt, wie sie sich in ihrer Arbeit nun endlich auch für Stimuli öffnen und die ihre Ergebnisse beeinflussen lassen kann. Ein Bestandteil dieser Entwicklungsarbeit ist, das Publikum auch an Teilergebnissen teilhaben zu lassen. So können Etappen im Dialog mit den Zuschauern erprobt werden, und das Publikum bekommt möglicherweise einen anderen Bezug zur, einen anderen Zugriff auf die Choreografie. Und es muss auch nicht immer das Gespräch nach der Aufführung sein, das oft genug in einem eher krampfhaften Frage-Antwort-Spiel endet. Waierstall lässt am Ausgang Zettel auslegen, auf denen die Besucher fünf Begriffe als Feedback notieren sollen. Das findet Anklang. Rund zwei Drittel der Anwesenden nehmen sich die Zeit, ihre Eindrücke in Stichwörtern festzuhalten, ehe sie den Heimweg antreten.

Und Eindrücke gibt es bei And Here We Meet reichlich. Ein etwa 40-minütiges Stück als Weiterentwicklung der Arbeit an A City Is Seeking Its Bodies, das auf ein neues Werk hinarbeitet, das im November zur Aufführung kommen soll. Der Raum ist schwarz und leer. Links und rechts sind jeweils zwei Reihen Zuschauerstühle angeordnet, über der leeren Bühnenfläche hängen sieben schmucklose Leuchtkörper an Kabeln herab. Noch ist der Raum hell. Aus dem Off ertönt The Beginning of Memory von Laurie Anderson, ein Gedicht, das von Vögeln erzählt, die in einer Welt leben, in der es nur Wasser, aber keine Erde gibt. Eine Tänzerin betritt die Bühne, grüßt mit einem sachlichen „Hey!“ und entkleidet sich vollständig. Aufmerksam beobachtet sie das Publikum, während sie zur Bühnenmitte schreitet und beginnt, einen Text von ihr und Waierstall vorzutragen.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Der choreografierte Ausdruckstanz gipfelt in einem aberwitzigen Lauf, ehe Ansgar Kluge das Licht ständig weiter zurückfährt und die Tänzerin die Leuchtkörper in Schwingungen versetzt. Im flackernden Licht spiegelt sich der Schweißfilm auf der Haut der Tänzerin, von der sich unversehens das Übertragungsmodul des Microports löst. Souverän löst die Tänzerin das Missgeschick. Um schließlich, der Text ist vorgetragen, die an Filmmusik erinnernde Komposition von Volker Bertelmann alias Hauschka erlischt, vorübergehend im Halbdunkel abzutauchen, während eine zweite Tänzerin, ebenfalls nackt, auf der Bühne erscheint und das Duett vollendet.

Foto © Katja Illner

Nacktheit als Selbstzweck, als Revolution, als Aufreißer? Kein Thema für Waierstall. Sie erzählt eine Geschichte, die in 100 Millionen Jahren spielt. Da kann es keine Kleidung geben, die in jetzigen Konventionen verhaftet ist, sagt sie. Der Zuschauer kommt bar jeden voyeuristischen Gefühls, aber auch abseits falscher Scham, in den Genuss, das athletische Muskelspiel der Tänzerinnen zu bewundern. Der Mythos, dem eine Leni Riefenstahl unter falschem Etikett hinterherjagte: Hier wird der Körper in seiner puren Ästhetik gezeigt, ideologiefrei und sinnerfüllt. Und wenn Waierstall die Atmung in die Musik choreografiert, bekommt das schon den Anstrich einer kleinen Sensation.

Dani Brown gelingt das perfekt. Grandios auch ihre Auseinandersetzung mit Evangelia Randou, die an ein Knäuel erinnert, ohne dass die Tänzerinnen miteinander in Berührung kommen. Nacheinander verlassen sie die Bühne.

Als Brown am Ende die Bühne wieder betritt und sich ankleidet, wollen die Besucher noch längst nicht, dass die Aufführung beendet ist. Erst als Randou hinzutritt, ist die Gewissheit gegeben, dass der Rausch vorüber ist. Selten hat man solche Kompromisslosigkeit im Tanz gesehen. Im November will Waierstall ein abendfüllendes Programm vorstellen, dann mit sechs oder sieben Tänzern. Am Ende von A City Is Seeking Its Body war die Frage immanent, ob es der Choreografin gelingt, diesen Erfolg zu steigern. Am Ende von And Here We Meet bleiben keine Fragen mehr, sondern nur noch die Vorfreude auf das Atmen von sieben Tänzerinnen.

Michael S. Zerban