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Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Thomas Jauk

Aktuelle Aufführungen

Schriller Thriller aus Britanniens Sodom

PETER GRIMES
(Benjamin Britten)

Besuch am
9. April 2016
(Premiere)

 

 

Oper Dortmund

Immo Karaman in Düsseldorf, Elisabeth Stöppler in Gelsenkirchen und Roman Hovenbitzer in Mönchengladbach: Sie alle haben gezeigt, dass Benjamin Brittens größter Bühnenerfolg, seine 1945 entstandene Oper Peter Grimes, eine umso stärkere Sogwirkung erzeugt, je sensibler man mit dem großartigen Stoff umgeht. Tilman Knabe, ein Regisseur mit extrem starken Qualitätsschwankungen, lässt es dagegen in Dortmund wieder einmal so mächtig krachen, dass von der spezifischen Atmosphäre des Werks, geschweige denn von der filigranen psychologischen Feinzeichnung der Figuren nichts mehr zu spüren ist. Und da ihm polternder Budenzauber offenbar nicht ausreicht, modelt Knabe auch noch die Handlung sinnentstellend um.

Hoch her geht es also in dem heruntergekommenen Fischerdorf an der ostenglischen Küste zu, in dem Peter Grimes die Bewohner in Unruhe versetzt. Zumindest sieht das Knabe so. Sex and Drugs in exzessiver Dosierung lassen den Einwohnern kaum Zeit, sich dem lebensnotwendigen Fischfang zu widmen. Im Unterschied zum ehrgeizigen Peter Grimes, der in Dortmund nicht nur als Eigenbrötler den Hass der Einwohner auf sich zieht, sondern sogar als blutrünstiger Psychopath alle Sympathien verspielt.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Grell und munter treiben es die Fischersleut‘ in Knabes britischem Sodom. Und das gefällt zumindest dem Premierenpublikum im mäßig besuchten Dortmunder Theater ausnehmend gut. Doch was haben auf der tristen Mole kopulierende Teenager, was hat ein tobsüchtiger Grimes mit Brittens Oper zu tun? Ist das schwere Leben der Fischer von Suffolk nicht von untergründigen Aggressionen, Ängsten und Vorurteilen geprägt, die nur gelegentlich aufbrechen? Zeigt Britten nicht ein Leben in der prüden englischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, das eben nicht durch einen blühenden Bordell-Betrieb versüßt werden kann? Sind die Einwohner mit ihren Gefühlen nicht genau so isoliert wie der Außenseiter Grimes, der bei Knabe ausgerechnet die Lehrerin Ellen Orford, seine einzige Bezugsperson, zusammenschlägt und als Krönung den ihm zugewiesenen Waisenjungen auch noch im Bett mit einem Messer zerfleischt?

Foto © Thomas Jauk

Dabei lassen Brittens Libretto und vor allem seine Musik keine Frage unbeantwortet. Und so schrammt Knabe mit vollen Segeln am Werk vorbei, das nur mit einer dramaturgischen Brechstange als schriller Thriller aus dem Zuhälter- und Dealer-Milieu missverstanden werden kann. Schade. Dass die Wirtin Auntie und ihre attraktiven Nichten das zur zentralen Begegnungsstätte geadelte Bordell erfolgreich führen, verwundert da nicht, auch wenn die Damen während einer der dorfüblichen Orgien dem Bürgermeister mächtig ins Allerheiligste beißen und die Dorfjugend zur feingestrickten Musik Brittens im Takt vögelt. Platter geht es kaum.

Dabei charakterisiert Knabe einige Figuren durchaus originell und handwerklich professionell. Der großspurige Bürgermeister, der fanatische Bob Boles, die Hobby-Detektivin Mrs. Sedley und alle anderen kleineren Rollen erhalten ein spezifisches Profil. Doch die Hauptpartien leiden unter der aktionistisch überdrehten Fantasie des Regisseurs. Die schlägt bei Peter Grimes solche Kapriolen, dass er Hannibal Lector näher zu stehen scheint als dem Wozzeck. Ellen Orford und Kapitän Balstrode, die beiden einzigen Sympathisanten des Außenseiters, verlieren durch diese Lesart natürlich ihre fürsorgliche Motivation und Kraft. Ellen, die geprügelte Freundin, resigniert, anstatt die Hoffnung bis zum bitteren Ende mit Stärke aufrechtzuerhalten. Balstrode agiert unentschlossen und blass wie ein Fremdkörper in der kranken Gesellschaft. 

Bezeichnend, dass das Meer, der heimliche Protagonist des Stücks, überhaupt nicht sichtbar wird. Bühnenbildnerin Annika Haller gestaltet ein deprimierend abgewirtschaftetes, von Drahtzäunen eingeschnürtes, notdürftig zur billigen Partymeile aufgepepptes Hafenszenario mit dem zwielichtigen Etablissement der Auntie als vitalen Blickfang.

Der Chor der Dorfbewohner, ohnehin eine Riesenpartie, kommt in der Inszenierung richtig ins Schwitzen, obwohl die Unterwäsche beim Rudelbumsen für Erleichterung sorgt. Bereits im Prolog verhält er sich nicht unterschwellig aggressiv gegen Grimes, sondern wuselt mit offener Gewaltbereitschaft über die Bühne. Dass der Dortmunder Chor seine musikalisch anspruchsvolle und szenisch kräftezehrende Aufgabe so souverän löst, entschädigt für manchen optischen Missgriff.

Überhaupt ist es den Sängern wie auch Dirigent Gabriel Feltz und den Dortmunder Philharmonikern zu verdanken, dass der Sinn des Stücks und die spezifische Atmosphäre der Musik nicht ganz überrollt werden. Feltz bevorzugt zurückhaltende Tempi, hält bisweilen die Zeit an. So wie die Zeit, die in Brittens Dorf stehen zu bleiben scheint. Auch die aggressiven Ausbrüche der Musik formt er eher gedämpft. Die Dunstglocke dumpfer Angst, die das Fischernest umhüllt: In Feltz‘ Interpretation ist sie zu spüren.

Allerdings müssen die Sänger in diesem szenischen Umfeld mehr und stärker poltern als nötig. Das mindert jedoch nicht die beeindruckende Leistung von Peter Marsh in der Titelrolle. Ein Tenor mit einer hellen, biegsamen Stimme, der es dennoch nicht an Durchsetzungsvermögen fehlt. Auch wenn er, vor allem im zweiten Akt, große Probleme in der Intonation hören lässt, überzeugt er mit einer eindringlichen, wenn auch durch den Regisseur plakativ überdrehten Rollenstudie. Die Rolle der Ellen Orford, die sich von Grimes bei Knabe unverständlicherweise zusammenprügeln lassen muss, verliert in Dortmund viel von ihrem aktiven Potenzial. Als eingeschüchtertes Wesen kann sich so auch Emily Newton gesanglich nicht so reich entfalten, wie sie es könnte. Die vielen, durchaus individuell geprägten, kleineren Partien sind durchweg vorzüglich besetzt und bekräftigen aufs Neue den Wert guter Ensemblepflege. Karl-Heinz Lehner als dauergeiler Bürgermeister Swallow, Sangmin Lee als relativ mildtätiger Kapitän Balstrode, Martina Dike als skurrile Klatschtante Mrs. Sedley, Judith Christ als resolute Wirtin und Puffmutter Auntie mit ihren koketten Nichten Tamara Weimerich und Ashley Thouret: Sie und alle anderen retten die Produktion vor der totalen Entgleisung.

Begeisterter Beifall für alle Beteiligten. Durchaus verdient für das musikalische Team, während die Inszenierung deutlich abfällt.

Pedro Obiera