Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Davos-Festival

Davos-Festival 2016

Mutiger Zugriff

DIE SCHWEIZER FAMILIE
(Joseph Weigl)

Besuch am
12. August 2016
(Premiere)

 

Davos-Festival,
Aula Schweizer Alpine Mittelschule

Suchtmittelfreie Zone“ ist vor dem Eingang der Aula der Schweizer Alpinen Mittelschule Davos auf den Bürgersteig gesprüht. Konsequenterweise werden am Premierenabend von Die Schweizer Familie keine Alkoholika angeboten. Ob ein solches Verbot auch für die liebevoll zubereiteten Kanapees gelten müsste, die in der Pause gereicht werden, wird man in den politisch korrekten, so genannten Sozialen Medien weiter diskutieren müssen. Vorerst ist zu konstatieren, dass sie in der Nachfrage ganz klar Suchtmittel übersteigen.

Eine Aula eignet sich nur bedingt für Aufführungen, die über das Niveau von Schülertheater und Schulchorgesang hinausgehen. Trotzdem hat sich das Davos-Festival darauf eingelassen, dort eine Oper von Joseph Weigl zu zeigen. Weigl muss selbst der eingefleischte Opern-Anhänger nicht kennen. Aber es lohnt sich, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Zu Lebzeiten war der Kapellmeister einer der berühmtesten Komponisten. Rund 34 Opern, Singspiele und Operetten stammen aus seiner Feder. Die Schweizer Familie gehört zu denen, die weltweit am häufigsten aufgeführt wurden. Reto Bieri, Künstlerischer Leiter des Davos-Festivals, hat den Komponisten Philip Bartels beauftragt, aus dem Singspiel eine Kammeropernfassung zu erstellen. Das Libretto von Ignaz Franz Castelli ist schlicht gestrickt und – wie in Wien zu Beginn des 19. Jahrhunderts recht beliebt – stark dialoglastig.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Bei einer Wanderung in den Schweizer Alpen stürzt der deutsche Graf Wallstein, von einem herabstürzenden Felsen getroffen, in den Abgrund. Bauer Richard Boll findet und rettet ihn. In der bäuerlichen Hütte wird der Graf gesundheitlich wiederhergestellt. Dankbar siedelt der die gesamte Bauernfamilie auf sein Landgut um. Damit wäre alles gut, gäbe es nicht Bauerntochter Emmeline, die unsterblich in den zurückgelassenen Schafhirten Jacob Friburg verliebt ist und an der Trennung allmählich zugrunde geht. Das Ende ist so glücklich wie absehbar.

Foto © Davos-Festival

Bartels zeigt wenig Respekt vor Libretto und Partitur. Gnadenlos streicht er Dialoge oder wandelt sie in Rezitative um. Er schreckt nicht einmal davor zurück, Perkussionsinstrumente hinzuzufügen. Was Puristen die Nackenhaare aufstellen lässt, ist im Ergebnis eine erfrischende, transparente, klangschöne Kammermusik, die die Sänger unterstützt und angenehm kurzweilig-melodiös daherkommt.

Ehe Matthias Behrends, Leiter des Opernstudios Bern und Regisseur des Abends, sich der spielerischen Umsetzung widmen kann, muss er erst einmal eine Menge Material auf der doch eher überschaubaren Bühne unterbringen. Im linken Drittel sitzen dichtgedrängt die Musiker. Auf der „Seitenbühne“ findet auch noch ein präpariertes Klavier Platz. Die Mitte bleibt einem Caretta-Camping-Wagen vorbehalten, vor dem noch ein künstliches Gärtchen angeordnet ist. Rechts ist eine ganze Batterie von Perkussionsinstrumenten untergebracht. Weniger eingefallen ist Kostümbildnerin Sun Sun. Der deutsche Graf kreuzt in kurzen Hosen auf, Verwalter Durman bekommt erst gar kein Oberteil und der Schafhirte ganz in Weiß will auch nicht so recht zu den sonst typisierenden Kostümen passen. Eingeleuchtet ist das Ganze von Florian Kunz mit grobem Strich – mehr Feinheiten ließe wohl die Aula-Technik auch kaum zu. An mehr Bilder ist gleichfalls nicht zu denken, also muss Behrends die Handlung an anderen Orten darstellen lassen. Köstlich, wie drei Darsteller den Absturz in den Alpen mimen. Immer wieder gelingen dem Regisseur solche durchdachten Einfälle, bei denen auch mal geschmunzelt werden darf, ohne ins Komödiantische abzugleiten. Seine Personenführung lässt niemanden seiner Studenten allein, ohne sie zu unterfordern. Mit einem wahrhaft voluminösen Schlussbild gelingt ein furioses Finale, das den Zuschauern im ausverkauften Saal sicher noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Dazu tragen auch die Nachwuchssänger vom Opernstudio Bern bei. Besonders eindrucksvoll der runde, samtene Bass von Frédéric Jost, der den Bauern Boll gut verständlich durch alle Lagen manövriert. Matthias Bein verleiht dem Grafen einen jugendlichen Bass-Bariton, der sehr viel für die Zukunft verspricht. Alles dreht sich um die junge Emmeline, die Sarah Kollés Sopran souverän bewältigt. Viel Humor bringt Tenor Patrik Reiter als Jacob Friburg in Stimme und Mimik da auf die Bühne, wo es passt. Tenor Niklaus Loosli als Durmann, Mezzosopranistin Nora Bertogg in der eher kleinen Rolle der Bauersfrau und Tenor Hrvoje Foretić als Verehrer von Emmeline ohne Chancen ergänzen ein spielfreudiges, engagiertes Team, das sich erstaunlich professionell zeigt. Wunderbar unterstützt werden die Solisten vom Davos-Festival-Kammerchor in der Einstudierung von Andreas Felber, den Behrends so gut einsetzt, dass er gar einmal für Gänsehaut-Gefühl sorgt.

Weiterer und letzter Höhepunkt der Premiere ist das Davos-Festival-Opernensemble unter Leitung von Riccardo Bovino, der sich parallel des Klaviers annimmt. Eine zusätzliche Herausforderung besteht darin, auch die Perkussionisten mitzunehmen. Leistet schon das Ensemble in drangvoller Enge und ungewöhnlicher Sitzordnung hervorragende Arbeit, liefern Eléna Beder und Carlota Cáceres an Marimbaphon, Woodblocks, Xylophon und Timpani wahren Hochleistungssport, ohne auch nur einmal wahrnehmbar das Spiel zu vernachlässigen. Großartig.

Das sieht auch das Publikum so und spart nicht mit Applaus und Begeisterungsrufen. In der Bar eines nahegelegenen Hotels ist dann auch das Alkoholverbot aufgehoben und mit einer fröhlichen Feier klingt ein rundherum gelungener Abend beim Davos-Festival aus.

Michael S. Zerban