Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Michael S. Zerban - Foto © Lennart Rauße

Kommentar

Großes Potenzial

Vierzehn Tage lang finden im schweizerischen Davos junge Künstler zusammen, um Netzwerke zu knüpfen, miteinander in wechselnden Konstellationen zu musizieren, sich auszuprobieren – ach ja, und das Publikum zu begeistern. Der Blick in die Zukunft zeigt: Es weht ein frischer Wind im Alpental. Da darf man noch einiges erwarten.
Das Duo Birringer beim Kaffeehaus-Konzert - Foto © Opernnetz

Das morbide Flair eines Kurortes für Lungenkranke ist längst Geschichte. Vereinzelt sind im Ort noch Gebäude zu sehen, von denen man glauben möchte, dass es sich ehedem um Sanatorien oder Kliniken handelte. Ansonsten ist Davos wohl eher ein Wintersportort, der auch im Sommer Gäste anzieht. 1986 wurde hier auf Initiative von Michael Haefliger das Davos-Festival gegründet. Ein vierzehntägiges Festival, das alljährlich im August hochbegabte Nachwuchsmusiker einlädt, um sich in Kammermusikkonzerten gegenseitig kennenzulernen und zu vernetzen. Seit 2014 ist Reto Bieri Intendant der Festwochen. Unter seiner Ägide soll sich das Festival kräftig weiter entwickeln.

Rund 80 junge Künstler aus mehr als 20 Ländern werden eingeladen, um sich in 50 Konzerten dem Publikum in wechselnden Konstellationen zu präsentieren. Aber wer ist das Publikum? Wohl kaum andere junge Leute aus anderen Ländern, denn die Preisstrukturen dürften ihnen in den seltensten Fällen erlauben, sich einen längeren Aufenthalt in Davos zu leisten. Tatsächlich bestehen die Besucher zu etwa zwei Dritteln aus den Besitzern oder Bewohnern von Zweitwohnungen am Ort, die überwiegend aus Zürich oder – historisch gewachsen – aus Basel kommen, weiß Matthias von Orelli, Präsident des Davos-Festivals, zu berichten. Gerade mal schätzungsweise fünf bis zehn Prozent der Konzertgäste reisen eigens für das Ereignis an.

Bei einer ohnehin hohen Festivaldichte im Kanton Graubünden, vom Kulturangebot in Zürich ganz zu schweigen, muss man sich in Davos um höchste Attraktivität bemühen. Denn erfahrungsgemäß sind Menschen nur schwer zu motivieren, sich zu klassischen Konzerten aus ihren Ferienwohnungen heraus zu bemühen. Bei etwas mehr als 11.000 Einwohnern ist das Potenzial ebenfalls nicht überwältigend. Auch wenn die Finanzierung überwiegend durch Sponsoren und Stiftungen und zu einem geringen Teil auch durch die öffentliche Hand sichergestellt sind, sind doch durchweg gute Ideen gefragt, um die Attraktion des Festivals zu steigern.

Bieri und sein Team setzen auf mehrere Strategien. So werden die Konzerte von kostenlosen Zusatzangeboten wie Kaffeehauskonzerten flankiert. Dahinter steht die Idee, das Festival in den Ort hineinzutragen. Kein origineller Einfall, aber ein lebensnotwendiger, der von anderen Intendanten längst noch nicht verinnerlicht ist und zu den schwierigsten Aufgaben überhaupt gehört. Davos ist da schon erstaunlich weit, wenn in vielen Hotels, in der Kirche, in einer Schulaula, im Bahnhof, selbst im Altenzentrum oder in der freien Natur Veranstaltungen stattfinden. Weitere interessante Orte, auch im weiteren Umfeld, sind in Planung, sagt von Orelli. Auch die örtliche Jugend wird zumindest teilweise eingebunden, wenn sich Schülerinnen und Schüler als junge Reporter bewerben können.

Die Kehrseite der Medaille sind Zersplitterung und Berührungsängste. In ein Luxushotel hineinzuspazieren, um dort ein Konzert zu erleben, ist nichts für jedermann. Und wer das – hervorragend ausgestattete – Programmheft nicht zur Hand hat, verliert schnell die Bindung. Ein Festival-Zentrum als Anlaufstelle, und sei es auch nur ein Ladenlokal auf der Promenade, sucht man vergebens. Auch Ortskenntnisse sind durchaus von Vorteil, andernfalls gibt es hier sicher noch viele Ideen, wie man Veranstaltungsorte transparenter und leichter auffindbar macht.

Was die Qualität der Konzerte und Sonderveranstaltungen angeht, ist Davos ohnehin über jeden Zweifel erhaben. Da kann der englische Slogan „Junge Künstler im Konzert“ schon einmal irritieren. Quatuor van Kujk oder die Geschwister Birringer, um nur zwei Beispiele von vielen zu nennen, sind längst international erfolgreich. Vom „Anfang einer Karriere“ möchte man da eigentlich kaum noch sprechen. Vielleicht wäre ein Artists of the Future angebrachter.

Sein Ziel, die jungen Künstler innerhalb von zwei Wochen zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammenzuschweißen, hat Intendant Bieri sicher längst erreicht. Musiker und Publikum in ebensolcher Weise zu vereinen, scheint noch ein weiter Weg zu sein. Und ohne einen „Campus“ ein vielleicht noch schwierigerer. Aber die Mühe lohnt sich, um die nächsten 30 Jahre zu bestehen.

Michael S. Zerban

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