Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Alle Fotos © Hofmann/La Monnaie De Munt

Aktuelle Aufführungen

Intellektuelle Masturbation

TO BE SUNG
(Pascal Dusapin)

Besuch am
6. Januar 2016
(Premiere)

 

 

La Monnaie/De Munt, Flagey

Das Kulturzentrum Flagey dient derzeit als Ausweichspielstätte für das Opernhaus La Monnaie De Munt in Brüssel. Das ehemalige Rundfunkgebäude atmet den Charme vieler Jahrzehnte, wurde immer wieder modernisiert, ohne die Morbidität zu verlieren, die ihm innewohnt.

Solch ein Gebäude ist für Regisseur Sjaron Minailo eine willkommene Bühne, sagt er. Nicht die Institution Oper interessiert ihn, sondern das Experimentierfeld Musiktheater. Und da kommt ihm die dritte Oper von Pascal Dusapin To be sung gerade recht. Der Komponist hat auf der Grundlage von Gertrude Steins Texten – die sie selbst als Kopfgeburten bezeichnete, nur für sich selbst geschrieben hat und die man vielleicht als kultivierte Form des Dadaismus beschreiben kann – eine Kammeroper komponiert, die vor allem eines sein soll: vom Sinn befreit. 1992 von ihm verfasst, sucht Dusapin heute selbst nach Erklärungen, ringt anlässlich der Aufführung in Brüssel um den nachträglich gelieferten Sinn. Das kann nicht gut gehen. Minailo sekundiert: Das Team – allesamt Männer, die nach eigener Auskunft zu Frauen eigentlich keinen Bezug haben – wollen eben diesen Frauen Raum für die eigene Entwicklung geben. Maarten Warmerdam verspricht dazu ein ausgeklügeltes Lichtdesign. Renato Nicolodi will einen Monolithen im Zentrum der Bühne beisteuern, ikonenhaft, vielleicht auch phallusgleich, vielleicht ein Altar der Erinnerungen – alles ist denkbar. Die Beliebigkeit stimmt ebenso nachdenklich wie Christophe Coppens‘ Aussage, dass er sich seit einem Jahr bei seinen Kostümen mit dem Thema Stein beschäftige und das hier umsetzen konnte.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Mit zehnminütiger Verspätung beginnt die Aufführung im ehemaligen Sendesaal. Die Bühne wirkt eindrucksvoll. Hinter einem Gaze-Vorhang steht der versprochene Monolith im Zentrum. Links davon nimmt das siebenköpfige Orchester Platz. Im Hintergrund eine in Abschnitte unterteilte Papierwand, davor sind Stufen aufgebaut. Rechts und links ein paar Lichtsäulen, die zusätzliche Lichteffekte einstreuen können. Ein Ambiente, vor dem ohne Schwierigkeiten eine Salome stattfinden könnte.

Foto © Hofmann/La Monnaie De Munt

Minailos Idee: Ein Bild im Ungefähren, dass die Sinnfreiheit der Oper unterstreicht. Eine lyrische Oper ohne Botschaft, wie sie sich Stein gewünscht hat. Der Fehler: Der Gaze-Vorhang bleibt unten. Die auftretenden Figuren bleiben unscharf, im wechselnden Licht auf den Papierwänden verwischen sie. Die Tiefenschärfe stimmt für das Publikum nicht. Nach spätestens einer halben Stunde tränen die Augen. Die auftretenden Personen sind kaum erkennbar – und so bleibt auch die Nacktszene intellektuelle Masturbation.

Dusapin selbst ist stolz darauf, Partituren zu schreiben, die für Sänger nahezu unsingbar sind. Bei der Brüsseler Besetzung hat er sich damit allerdings gründlich vertan. Marisol Montalvo als Erster Sopran präsentiert mit einer nie gehörten Leichtigkeit einen Gesang, der eigentlich keiner ist. Aus dem Nichts ertönt da eine Vokalise, wird zu einer nahezu gesprochenen Aussage, verliert sich, um gleich darauf wieder murmelnd aus den Tiefen aufzutauchen. Bewundernswert, was ein Mensch mit seiner Stimme anzustellen vermag, wenn es einen eigentlichen Gesang nicht gibt. Da möchte man nur noch die Augen schließen, um nicht das Kostüm zu sehen, das an einen Gardinenvorhang mit Schleppe erinnert, auf der sich eine Steinimitation befindet. Wie Minailo hier die Figuren vorführt, ist grenzwertig. Allison Cook, die eine Schwangere mit Steinpanzer vor der Brust darzustellen hat, ist in der Stimme nahezu ebenbürtig, liefert sich grandiose Duette mit Montalvo. Geneviève King, Dritter Sopran, geht mit nichtssagendem Kostüm ein wenig unter. Ganz schlimm die Stimme des Erzählers, Dale Duesing, die aus dem Off kommt und an einen Moderator einer Verkaufsschau erinnert. Nicht, was seinen Vortrag, sondern was die Technik angeht. Die Tänzerin, mit „Steinen“ behängt, Marie-Louise Wilderijkx, verzweifelt schier an den Regie-Vorgaben. Was soll sie auf die entblößte Brust von Montalvo ritzen? Das erinnert ein wenig an Doktorspiele von Kleinkindern, die hinterher auch nicht mehr wissen, was das alles soll.

Bassam Akiki dirigiert das siebenköpfige Orchester akkurat, gibt sich sehr viel Mühe, den Sängerinnen die Einsätze zu zeigen und hat damit auch Erfolg.

Das Publikum, einige haben den Saal vorzeitig verlassen, reagiert nach 70 Minuten erschöpft.  Schwachen Applaus gibt es für alle. Und als die Akteure die Treppen hinaufeilen, flüchtet auch das Publikum. Einen zweiten Applaus gibt es nicht. Zeitgenössische Oper, die sich mit sich selbst beschäftigt, hat keine Zukunft. Die Luft ist raus.

Michael S. Zerban