Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Lauter Ruf nach Freiheit

DON CARLO
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
16. Oktober 2016
(Premiere am 30. September 2016)

 

 

Theater Bielefeld

Rein formal startet das Theater Bielefeld gut in die neue Saison: Michael Heicks, der seit 2005 Intendant ist, hat seinen Vertrag bis 2023 verlängert. Eine gute Entscheidung, da man in Ostwestfalen mindestens unterhaltsames, stellenweise auch sehr spannendes Musiktheater mit einem vielseitigen Hausensemble erleben darf. Die erste Oper der Saison, Verdis Don Carlo, zeigt aber auch, dass sich das Haus nicht auf diesen Erfolgen ausruhen darf und seine Sänger pflegen sollte.

Doch der Reihe nach: Regisseur Jochen Biganzoli ist kein Unbekannter in Bielefeld, bescherte er doch einen unbequemen, aber sehenswerten Tannhäuser. Damals wie heute baut Wolf Gutjahr eine bombastische Drehbühne für verschiedene Blickwinkel, eine Andeutung von königlichem Hof und gleichzeitig eine Metapher für seelisches wie staatliches Gefängnis. Stufenartig läuft der Raum wie in einem Kino nach oben, besonders der Infant von Spanien schaut wie ein Voyeur auf seine eigene Misere. Wie aktuell der Stoff von Schiller ist, möchte das Regieteam zeigen. Heike Neugebauer gibt den Personen daher moderne Kostüme, nicht unbedingt schön, aber vielseitig. Bühne, Kostüme und Regie gehen Hand in Hand, was ein sehr klares Konzept offenbart, dabei allerdings nicht so zwingend wie der erwähnte Tannhäuser. Nur selten wird man emotional berührt bei der dritten Aufführung der Serie.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Entschieden hat man sich für die vieraktige, italienische Fassung, die auf der Drehbühne viel Tempo entwickelt. Biganzoli sucht nach den Entwicklungen im System. Da wird aus Ebolis pink-blonder betrunkener Damengesellschaft in der nächsten Drehung ein brav-situierter Hofstaat in der Gegenwart des Königs. Phillip II. im blauen Anzug ist ein autoritärer Politiker, der sich nach Freiheiten sehnt, ausgedrückt in einer kurzen Romanze mit dem Hipster Rodrigo. Des Königs Schwäche demonstriert sich im Schatten der Kirche. Mönch und Großinquisitor werden durch eine Projektion nur als religiöses Prinzip angedeutet, hoffnungsvoll und unbarmherzig gleichermaßen. Das sind mit die stärksten Momente der Produktion. Ebenfalls berührend: Während Carlos und Elisabeth Abschied nehmen, wird um sie herum die Bühne abgebaut, allerdings nur im Video von Thomas Lippick. Das Paar will alles hinter sich lassen, doch in der folgenden Realität wird Carlos der Inquisition geopfert und Phillip zieht Elisabeth mit sich fort.

Foto © Bettina Stöß

Der stärkste Moment gehört gleichzeitig dem musikalischen Gewinner der Aufführung. Zum Autodafé stellt Biganzoli nur den Chor auf die Bühne. Wie sie mit Smartphones bewaffnet dem Event beiwohnen, auf die Geschehnisse reagieren, die das Publikum nicht sieht, das ist Theater in der höchsten Kunst. Das Publikum hört nur die Worte der Sänger, die irgendwo im Rang stehen. Die Masse gafft und schreit, zeigt plötzlich Mitleid mit den Ketzern – ein paar Fundamentalisten mal ausgenommen, das sind vier finstere Chorbässe. Dann greift der Prinz zum Schwert, entsetzt reagiert die Masse. Der König wird angegriffen, alles hält den Atem an – das Publikum und auch das echte Publikum. Dann hört man endlich wie eine Befreiung Posa rufen: „Gib mir den Degen“. Aufatmen bei allen Beteiligten und man kehrt schnell zur Tagesordnung zurück. Hagen Enkes Chöre meistern diese Szene, und nicht nur diese, in jeder Hinsicht mit Bravour. So schön differenzierend, so ausgeglichen hört man Verdis Musik etwas zu selten.

Das liegt auch daran, dass bei Alexander Kalajdzic der Ruf nach Freiheit vor allem ein lauter Ruf ist. Zu pauschal für diesen Stoff poltern er und die etwas unsauber spielenden Philharmoniker durch die Partitur. Da gewinnen vor allem die dramatischen Momente und mit ein bisschen Glück auch die leisen. So gehen der Oper einige Nuancen verloren, vor allem aber bringt es die Sänger in Schwierigkeiten.

Insbesondere Daniel Pataky, der in der Titelrolle einen rabenschwarzen Tag erwischt, muss seinen Tenor so unter Druck setzen, dass die Höhe selten frei klingt und ihm ein ums andere Mal wegbricht. Ob die Theaterleitung ihm die passende Rolle für sein lyrisches Material angeboten hat, ist fraglich. Aber auch anderen Sängern ergeht es so: Der an sich so unverwüstliche Evgueniy Alexiev muss als Rodrigo so richtig tief in seine vokalen Taschen greifen, um jedes Quäntchen an Resonanz herauszuholen. Seine Interpretation ist dennoch die stimmigste des Abends, dicht gefolgt von der energiegeladenen Katja Starke als Eboli, die auf technischem Weg die Klippen der Partie erklimmt. Sarah Kuffner weiß mit schöner Stimmführung und edler Darstellung als Elisabeth zu gefallen, auch wenn sie nicht mit der üblichen Intensität aufwartet. Auch Sebastian Pilgrim ist als ihr Ehemann nicht sonderlich aufregend. Insbesondere in seiner großen Arie fehlt es an Emotionen. Rein stimmlich weiß er die Partie aber problemlos auszufüllen. Geheimnisvoll tönt Moon Soo Park als Großinquisitor aus dem Hintergrund und Lianghua Gongs kurzer Auftritt als Graf Lerma macht neugierig auf seinen Nemorino im Liebestrank.

Die lange Aufführung hinterlässt beim Publikum deutliche Spuren. Zur Pause hin ist der Applaus enthusiastisch. Danach nimmt die Konzentration merklich ab, die Gespräche dagegen zu. Der Schlussapplaus fällt so eben noch in die Kategorie Höflichkeitsbeifall. Insgesamt ist diese Produktion zwar gelungen, aber für Bielefelder Verhältnisse dann doch nicht nachhaltig genug.

Rebecca Hoffmann