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Alle Fotos © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Schönklang gegen Novembertrübsal

MANON LESCAUT
(Giacomo Puccini)

Besuch am
5. November 2015
(Premiere am 19. Dezember 2004)

 

 

Deutsche Oper Berlin

Liest sich wie ein Film-Skript, ist aber das Libretto von Manon Lescaut. Giacomo Puccini feierte mit der Uraufführung dieser Oper 1893 im Teatro Regio in Turin einen triumphalen Erfolg. Fortan war er mit 35 Jahren finanziell unabhängig. Durch schöne Melodien ebenso schöne Frauen mit schnellen Autos zu beeindrucken, galt ihm mehr, als sich mit avantgardistischen Orchestrierungen einen Platz in der Komponisten-Ruhmeshalle zu sichern. Wo andere um neue musikalische Ausdruckformen rangen, war ihm die Oper eine Bühne, wo die Sänger und Sängerinnen in koloriert-temperierten Arien zu schöner Musik schön singen sollten. Der Einzug in den Opernhimmel ist ihm trotzdem gelungen.

Die Wirkung seiner Kompositionen der Leidenschaften,  getragen von Mitgefühl und Mitleiden vor allem für liebende, aber tragisch scheiternde Frauen, beruht auf einer dramaturgischen Schnitttechnik. Im Film erst Jahrzehnte später gestalterischer Teil von filmischen Erzählungen, sind Puccinis Opern eine Vorwegnahme des modernen Kinos.

Das Libretto von Manon Lescaut exemplifiziert als Skript dieses Prinzip: Armer Student liebt schönes Mädchen. Reicher, alter Mann will das Mädchen entführen. Junger Mann kommt ihm zuvor. Schnitt eins. Schönes Mädchen schätzt Reichtum und Gold des alten Mannes, aber die Liebe fehlt. Armer Student und schönes Mädchen wollen endgültig fliehen. Alter Mann ruft die Sittenpolizei. Schnitt zwei. Verbannung des schönen Mädchens zusammen mit anderen leichten Mädchen nach Amerika. Junger Mann darf mit dem Schiff fahren. Schnitt drei. Schönes Mädchen und junger Mann verdursten in der Wüste. Ende.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Die Inszenierung von Gilbert Deflo, die 2004 mit Christian Thielemann am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin ihre Premiere feierte, ist jetzt als Wiederaufführung zu sehen. In einer minimalistisch gebauten, hell ausgeleuchteten Bühne von William Orlandi wird in gleichfalls von ihm entworfenen Rokoko-Kostümen gespielt. Das Zeitkolorit des Romans Histoire de Manon Lescaut et du Chevalier Des Grieux von Abbé Prevost von 1731 bestimmt nicht nur Bühne und Kostüme. Es ist ein Raumangebot, in dem sich der Puccini-typische Schönklang ohne Wenn und Aber und jenseits möglicher zeitgeistiger Reflexionsbemühungen entfaltet. Für einen trüben Novemberabend eine das Herz anrührende, gleichwohl wärmende Musik. Von Deflo entsprechend in Szene gesetzt, bietet die Aufführung diesen Hör- und Augenschmaus.

Foto © Bettina Stöß

Außer dem Bühnenbild und der inszenatorischen Vorlage ist in der Wiederaufführung alles neu. Auch das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Donald Runnicles ist ein anderes. Wenn man weiß, dass es von Puccinis Manon Lescaut eine frühe Version gibt, die mehr Sinfonie als Oper ist, die den Gesang unausgewogen übertönt und auch die letztlich endgültige Fassung von Manon Lescaut nicht frei von orchestraler Dominanz ist, misst sich die Qualität jeder Aufführung an dieser Balance.

Runnicles gelingt eine ausgewogene Balance zwischen sinfonischer Dichte des Orchesterklangs, der in den Tutti des Blechs den Gesang dominierend zudecken kann, und solistischer Gestimmtheit. Sein Dirigat malt Puccinis Oper in jener Amour-fou-italienne-Farbigkeit, die für Puccini, angesprochen auf die von Jules Massenet zehn Jahre zuvor uraufgeführte Oper Manon, selbstverständlich war. „Massenet empfindet als Franzose, mit Puder und Menuetts. Ich als Italiener spüre die rasende Leidenschaft darin.“

Die von Puccini in Manon Lescaut einmontierten Takte früherer Musikstücke integriert Runnicles feinsinnig in seine Interpretation. Mit Anklängen aus einem frühen Streichquartett spitzt er den dritten Akt orchestral dramatisch zu. Andererseits nimmt er der Tristan-artig klingenden Chromatik des zweiten Aktes die Reflexionsperspektive. Allein einem veristischen Reichtum an Handlung verpflichtet, sah sich Puccicni – und so dirigiert Runnicles straight ahead.

Die von William Spaulding differenziert disponierten Chöre fügen sich  organisch in die Inszenierung ein. Sie sind wichtige Garanten für die von Runnicles organisierte harmonische Balance.

Aus einem insgesamt überzeugenden Solisten-Ensemble ist besonders Sondra Radvanovsky hervorzuheben. Sie lässt ihren warm grundierten Koloratursopran bis in das mehrfach gestrichene C schillern und leuchten, ohne nachzulassen. Angesichts des Rollenumfangs nicht selbstverständlich. Beginnend mit einem unbekümmerten Vedete? Io son fedele im ersten Akt bis zur Kapitulation vor dem Tod Sola, perduta, abbandonata im Schlussakt ist sie spielerisch ungemein präsent und singt durchgängig gestaltend ausdrucksstark.

Neben Radvanovsky gelingt es Stefano La Colla nur teilweise, ausgewogen zwischen Spielen und Singen Des Grieux‘ zu charakterisieren. Dass sein schauspielerisches Repertoire begrenzt ist, wird schon nach wenigen Szenen deutlich. Mehr statisches Positionshalten als gestische Beweglichkeit. Seinem Tenor fehlt vor allem in einzelnen erotisch sinnlichen Szenen die Grandezza-Geschmeidigkeit, die man von italienischen Tenören in der Regel erwartet. Sein Arioso Sei splendida e lucante! könnte ein furioseres Mehr durchaus vertragen.

Starke Momente gelingen ihm zusammen mit Radvanovsky in den Duetten. Ihre gebündelten Stimmkräfte haben eine suggestive Ausdruckskraft, gegen die sich mitunter das Orchester selbstbewusst wehren muss.

Dalibor Jenes gelingt mit dem Sergeant Lescaut, dem Bruder von Manon, mit baritonal geschmeidig gestimmter Gesangskultur eine gewitzt hintersinnige Charakterstudie. Mit zunehmender Dauer der Aufführung singt und spielt er sich immer stärker in den Vordergrund.

Bassist Stephen Bronk singt die Rolle des alten, geilen Geronte De Ravoir mit altväterlichem Understatement. Es gelingt ihm aber nur selten, das allfällige Rollen-Klischee zu vermeiden.

Am Ende viel Applaus für alle. Begeisterte bravi und Fußgetrappel für Sondra Radvanovsky. Sie strahlt noch nach dem fünften Vorhang erfrischend unprätentiös, natürlich mit einem dankbaren, zu recht selbstzufriedenen Lächeln über eine nachhaltig im Gedächtnis bleibende Gestaltung der Manon Lescaut.

Peter E. Rytz