O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Blankpolierte Perle

DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY
(Henrik Albrecht)

Besuch am
22. November 2022
(Premiere am 7. Oktober 2022)

 

Literaturoper Köln im Theater am Engelsgarten, Wuppertal

Der Konflikt scheint unauflösbar. Eigentlich ist es ziemlich unfair, dass Kritiker bevorzugt Premieren besuchen. Da bestimmt oft die Aufregung noch das Taktmaß der Aufführung, Sänger und Musiker müssen aus der Probenphase in die Routine finden, was nicht immer reibungslos gelingt, und immer wieder zeigt sich erst in der Premiere die Qualität von Kostümen und Bühnenbild. Mehr als einmal passiert es dem Rezensenten, dass er in der Premiere sitzt und genau weiß, dass das Geschehen auf der Bühne, das er gerade erlebt, nicht dem tatsächlichen Leistungsstand entspricht. Auf der anderen Seite ist unbestritten, dass selbst Kritiken, die nicht so gut ausfallen, dem Kartenverkauf gehörig auf die Beine helfen können, also am liebsten noch vor der Premiere erscheinen sollten. Allzu selten bietet sich dem Schreiberling die Gelegenheit einer „Nachschau“. Auch ist das Interesse naturgemäß gering, weil es nicht so wirklich viele Stücke gibt, die man sich zwei Mal anschauen möchte, weil einem an diesem Tag halt die nächste Premiere entgeht.

Bettina Schaeffer – Foto © O-Ton

Als die Literaturoper Köln Anfang Oktober zur Uraufführung von Das Bildnis des Dorian Gray rief, blieb die Qualität          hinter den Erwartungen zurück. Es rumpelte gewaltig. O-Ton berichtete. Nach den Aufführungen in Köln begann die Kooperation mit der Wuppertaler Oper. Zum wiederholten Mal, weil eben sehr erfolgreich, lud die Oper das studentische Ensemble in das Theater am Engelsgarten ein. Das Theater ist eine Spielstätte der Wuppertaler Bühnen und kaum einen Steinwurf vom Opernhaus entfernt. Seit September 2014 ist das sanierte Haus in Betrieb und so ausgestattet, dass es unabhängig vom „Mutterhaus“ agieren kann. Moderne Technik, großzügige Spielflächen, eine Tribüne mit rund 150 Sitzplätzen und ein gläsernes Foyer sorgen dafür, dass die Spielstätte gut vom Wuppertaler Publikum angenommen wird. Es gibt keinen übertriebenen Luxus, Funktionalität herrscht vor, ohne ungemütlich zu wirken. Hier kann man sich auf Anhieb wohlfühlen.

Für die Kölner ist es im Vergleich zum Urania-Theater ein kleines Paradies. Die Frage ist hier nicht: Gibt es Licht? Sondern: Wie spielen wir mit dem Licht? Dementsprechend entspannt blickt Andreas Durban, Künstlerischer Leiter und Regisseur der Literaturoper, auf die bevorstehende achte und letzte Aufführung. Zumal auch an diesem Abend das Theater für heutige Verhältnisse außergewöhnlich gut besucht ist.

Kann das Urania-Theater in Sachen Nähe zwischen Publikum und Ensemble punkten, gewinnt die Inszenierung auf der größeren Spielfläche deutlich an Wirkung. Keine zehn Minuten vergehen, bis man völlig vergessen hat, dass hier Studenten auf der Bühne stehen. Daran haben sie auch in den vergangenen Wochen noch gearbeitet, erzählt Regisseur Durban. Es hat sich gelohnt. Unnötiger Aktionismus ist ausgeputzt, Überdrehtheiten sind weggebügelt. So wirken die Darsteller jetzt deutlich souveräner, die Handlung scheint strukturierter. Wenn es hier und da an der Textverständlichkeit im Gesang mangelt, ist das kein Beinbruch, weil die Erzählung stimmt und so auch dann das Geschehen nachvollziehbar bleibt. Auch hier bleibt am Ende der körperliche Verfall des Dorian Gray unsichtbar, aber immerhin wirkt er dank der weiterhin hervorragenden Darstellung von Bettina Schaeffer ziemlich lebensmüde und rundet das Stück ab.

Christopher Auer, Katharina Schätzung und Simge Ciftci – Foto © O-Ton

Auch musikalisch ist der neuerliche Besuch in Wuppertal ein Gewinn. Es wird nicht nur die bessere Akustik, sondern möglicherweise auch die neue Erste Geigerin, Judith Rosenbach, sein, die nicht nur für bessere Bewegungsabläufe des Streicherquartetts, sondern auch eine erheblich verbesserte Balance zwischen Orchester und Sängern sorgen. Auch kann Georg Leisse als musikalischer Leiter hier sehr viel deutlicher den Ton angeben.

Insgesamt ist es dem Ensemble unter Leitung von Andreas Durban gelungen, die in Köln gezeigte Perle noch einmal blank zu polieren. Das Publikum ist begeistert von einer modernen Oper mit neuer Musik. Ob es der Wuppertaler Oper gelingt, am 3. Dezember mit der Uraufführung von Noperas!: Obsessions die gleiche Spielfreude, Überzeugungskraft und Spannung zu erzeugen, wird man sehen müssen. Bis dahin gilt es, der Oper zu gratulieren, dass sie den Studenten diese Bühne gegeben hat.

Sollte also die „Nachschau“ Pflicht für Kritiker werden? Nein. An den Opernhäusern verschwinden die Regisseure in der Regel nach der Premiere, Nacharbeiten sind nicht vorgesehen. Den Aufwand, den die Studenten mit einem hohen Maß an Selbstreflexion hier – äußerst erfolgreich – vollzogen haben, betreibt ein Opernhaus normalerweise nicht. Darüber allerdings darf man nachdenken.

Michael S. Zerban