O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Matthias Baus

Aktuelle Aufführungen

Das letzte Einhorn

GÖTTERDÄMMERUNG
(Richard Wagner)

Besuch am
29. Januar 2023
(Premiere)

 

Staatsoper Stuttgart

In Stuttgart stand jetzt mit der Premiere Götterdämmerung der Abschluss eines neuen Ring-Zyklus auf dem Programm. Wobei die Formulierung „neuer Ring-Zyklus“ nicht ganz korrekt ist, denn beim Siegfried handelte es sich um die Neueinstudierung einer Inszenierung aus dem Jahre 1999. Die vier Teile stammen alle von unterschiedlichen Regisseuren, die Walküre benötigte sogar für jeden Aufzug eine eigene Regie. Dass so etwas das Gesamtkunstwerk Der Ring des Nibelungen zerfleddert, war vorhersehbar, in Chemnitz war einem ähnlichen Ring-Projekt mit vier Regisseurinnen auch kein nennenswerter Erfolg beschieden. Zum einen ist es grundsätzlich schwierig, ein einzelnes Werk aus Wagners Tetralogie für sich herauszugreifen, ohne den szenischen Kontext der anderen Werke zu kennen. Man kann auch davon ausgehen, dass nicht alle Zuschauer im Haus die vorhergehenden Werke kennen und daher schon per se Schwierigkeiten mit der Interpretation von Regisseur Marco Štorman haben dürften. Wenn man die Götterdämmerung isoliert betrachtet und nur das grade Gesehene und Gehörte bewerten soll, dann macht sich große Ernüchterung breit, und man fragt sich allen Ernstes, ob das wirklich der Anspruch der Staatsoper Stuttgart in Sachen Qualität ist.

Štorman, Absolvent der Falckenberg-Schule und mehr durch Arbeiten für Film und Schauspiel bekannt, hatte 2013 bereits den Rosenkavalier in Klagenfurt inszeniert, das war sein Operndebüt, damals noch eher konventionell. Sein zweiter Versuch, den Rosenkavalier vor einem dreiviertel Jahr in Nürnberg mit einem radikalen Ansatz, die Komödie für Musik von allem historischen Ballast zu befreien und das Stück ohne Charme und Schmäh auf die Bühne des Nürnberger Opernhauses zu bringen, war nicht überzeugend. Seine Deutung und Übertragung in ein zeitloses Heute gelang nur ansatzweise und ließ vieles offen. Daher ist die Erwartungshaltung an seine Neudeutung der Götterdämmerung eh schon gering, und so kommt die Enttäuschung auch nicht unerwartet, zumal Štorman sich außer einer Parsifal-Inszenierung 2016 in Bremen mit Wagner bisher noch keine Meriten verdient hat.

Dabei beginnt das Nornen-Vorspiel zunächst ganz verheißungsvoll. Überbleibsel der von Wotan gefällten Weltesche, zusammengebunden, blutend, wie ein letzter Aufschrei der Natur, werden von oben auf die Bühne herabgelassen. Ein starkes, archaisches Bild und für einen Moment keimt die Hoffnung auf, die Inszenierung wird starke Bilder zeigen. Das Bühnenbild stammt von Demian Wohler, der sich selbst als Szenograf versteht. Die drei Nornen erscheinen in einer Art weißer Kampfanzug mit weißen Netzmützen, die Kostüme an diesem Abend hat Sara Schwartz entworfen. Nun hätte man denken können, die Nornen spinnen ihr Seil an der gefällten Weltesche, was ein starkes Bild gewesen wäre, statt dessen wird eine große Holzkiste hereingefahren, in der sich große gemalte Ölbilder auf Leinwand befinden. Spätestens hier wird klar: Diese Inszenierung driftet ab in die Banalität. Wem die Bilder irgendwie bekannt vorkommen, muss tief in seinen Erinnerungen graben und wird dann fündig bei Karl May. Dessen Illustrator Sascha Schneider hatte für die Erstauflagen vieler Bücher von May die Einbände illustriert, oft mit homoerotischen Posen von nackten Männern mit Astralkörpern. Das Bild des vom Speer durchbohrten Siegfried ist nichts anderes als der Originaleinband zu Winnetou III aus dem Jahre 1904, nur dass hier der Speer hinzugefügt wurde, und Brünnhildes Ross Grane wird gar als Einhorn dargestellt. In der Szene auf dem Walkürenfelsen, wo Siegfried sich von Brünnhilde verabschiedet und sie ihm zum Tausch für den Ring ihr Pferd Grane anvertraut, überreicht sie ihm kurzerhand das Bild, auf das Siegfried sich setzt und wie ein Kleinkind Reitbewegungen imitiert. Die Bilder werden ständig hin und her bewegt und sollen wohl das erklären, was der Regisseur ansonsten nicht ausdrücken kann.

Die Szene auf dem Walkürenfelsen wirkt auch wie aus einer längst ausgestorbenen Zeit. Eine Art Höhle, aus der Siegfried mit einem halbärmeligen Vogelkleid und einem Helmflügel erscheint, darunter ein durchsichtiges Netzhemd, was sehr körperbetont ist und den armen Daniel Kirch in dieser Rolle nicht gerade vorteilhaft kleidet. Sein Schwert Nothung ist ihm lediglich auf den Leib tätowiert. Ein Totempfahl, wieder eine Anspielung auf Karl May, Totenschädel von Mensch und Tier und viel Bühnennebel sind die Ausstattung des Bühnenfelsens. Brünnhilde ist wie eine Hohepriesterin gekleidet, mehr Norma als Walküre. Und Siegfried wirkt schon dümmlich, bevor er Hagens Droge konsumiert hat. Das ist kein hehres Paar da auf dem Walkürenfelsen, denn Siegfried kann Brünnhildes Dimension nicht erfassen. Und so will er nach einer Liebesnacht auf dem Felsen weg zu neuen Taten. Der Walkürenfelsen ist nur für einen Moment Stätte des Glückes von Brünnhilde und Siegfried.

Bei den Gibichungen weiß man auch nicht, wo man sie einordnen soll. Die Halle ist ein Mix aus sakralem Kirchenbau mit Orgelempore und einem Plenarsaal mit Rednerpulten und dem Charme eines DDR-Politbüros der siebziger Jahre. Mit einer alten Polaroidkamera werden ständig Bilder gemacht, die später als Kartenspiel dienen. Es gibt also weder eine echte zeitliche noch räumliche Verordnung dieser Inszenierung, alles wirkt beliebig. Hagens Mannen, die dann im zweiten Aufzug hier erscheinen, tragen entweder helle Anzüge oder sind wie altrömische Senatoren mit Lorbeerkranz im Haar gekleidet. Auch hier eine Mixtur von Zeiten, auf dem Altar der Beliebigkeit geopfert. Die Eidesszene findet natürlich nicht an Hagens Speerspitze statt, sondern mit einem Buch unbekannter Art. Ist es die Bibel oder das kommunistische Manifest, man weiß es nicht. Papiere werden verstreut, es herrscht Chaos im Plenarsaal.

Schlimmer wird es dann noch, wenn die weiteren „Regieeinfälle“ wieder völlig am Werk vorbeiinszeniert sind. Gunther, in einem lachsfarbenen Anzug im Stile Maos, ist ein Schwächling, kein eigener Charakter. Dass Siegfried, wenn er in der Gestalt Gunthers Brünnhilde überwältigt, genauso wie Gunther gekleidet ist, macht Sinn. Dass in dieser Szene beide Darsteller zu sehen sind, und Siegfried einen Zerstäuber einer elektrischen Zigarette als Nebelmaschine nutzt, um sich unsichtbar zu machen, auch noch akzeptabel. Wenn aber Gunther an Stelle von Siegfried den Satz „Gönne mir nun dein Gemach“ selbst singt, beginnt die Verfälschung des Werkes. Und dass Siegfried auch im zweiten Aufzug als Doppelgänger Gunthers rumläuft, ergibt nun gar keinen Sinn, weil damit für Brünnhilde ja vom ersten Moment der Betrug an ihr offensichtlich ist. Als Hagen im dritten Aufzug Siegfried mit dem Speer durchbohrt, zieht Siegfried sich diesen genüsslich aus dem Körper und lächelt Hagen liebevoll an, um sich dann zu den Klängen des Trauermarsches umzuziehen und sein Vogelhemd aus dem ersten Aufzug wieder anzuziehen, zwischen den Mannen Hagens, bis der Vorhang für den Hauptteil des Trauermarsches heruntergelassen wird.

Ist Siegfried jetzt tot? Die Musik sagt es ja eindeutig, doch als der Vorhang wieder aufgeht, gibt es keine Leiche, an der Gutrune, die sehr oberflächlich dargestellt wird, trauern kann. Und plötzlich hat Gunther Siegfrieds Ring in der Hand, den ihm flugs Gutrune entwendet. Woher hat Gunther den Ring? Kenner des Werkes wissen natürlich, dass in dem Moment, als Hagen sein „Heiliges Beuterecht“ einfordert, der tote Siegfried den Arm hebt und Brünnhilde aus dem Hintergrund kommend den Ring von Siegfrieds Finger nimmt. Hagen tötet weder Gunther, noch sinkt Gutrune tot zu Boden, und Brünnhilde kann Gutrune den Ring entwenden. Für Puristen ist diese szenische Umdeutung einfach nur grottenschlecht, weil das ganze Werk, auch der Fluch des Rings ad absurdum geführt wird. Die Krönung ist dann das Schlussbild, als Siegfried quietschfidel auf einem überdimensionierten, hölzernen Einhorn hereingefahren wird und Brünnhilde sich hinter ihm aufs Pferd schwingt, Winnetou und Ribanna lassen grüßen. Dieses Bild ist an Albernheit und Lächerlichkeit kaum noch zu überbieten.

Wenn es überhaupt eine Figur mit Charakter in dieser Inszenierung gibt, dann ist es Hagen. Gefühlskalt, berechnend und manipulierend. Alles hat er minutiös geplant, um den Ring des Nibelungen zu gewinnen, für sich, nicht für Alberich. Hier hat Regisseur Štorman seinen einzigen klugen Einfall in dieser Inszenierung. Er verzichtet auf die Darstellung des Alberich und inszeniert die Szene als Albtraum Hagens, der mit Alberich, seinem Über-Ich, ein Zwiegespräch führt. Patrick Zielke spielt und singt beide Partien, mit unterschiedlicher Stimmfärbung und Ausdruck und wechselnder Körperhaltung. Eine Meisterleistung von Zielke. Doch außer diesem einzigen starken Moment bleibt die Figur des Hagen blass, das ist kein Bösewicht, vor dem man sich wirklich fürchten muss. Auch hat Hagen die Rechnung ohne Brünnhilde gemacht, die durch den Verrat Siegfrieds von der liebenden Frau wieder zur kühl agierenden Walküre wird, der Hagen nicht ebenbürtig sein kann. Der Vergessenheitstrunk, den Siegfried zu sich nimmt, ist eine schnell wirkende Droge, die ihn sofort abhängig und süchtig macht mit der Konsequenz, dass Siegfried von diesem Moment an bis zur Einnahme des Erinnerungstrunks wie bekifft über die Bühne tobt, stets dämlich grinsend und dümmlich schauend, eine totale Karikatur dieser Figur. Seine vermeintliche Liebe zu Gutrune ist nichts weiter als sexuelle Begierde. Schnell ist klar, dass das Ende nicht gut ausgehen kann.

Im dritten Aufzug ist das Bühnenbild zu Beginn identisch wie mit dem Bild der Nornenszene im Vorspiel zum ersten Aufzug. Die Rheintöchter sind identisch gekleidet wie die Nornen, was der nächste Fehler in dieser Inszenierung ist, da die Rheintöchter und die Nornen damit faktisch auf dieselbe mythische Ebene gehoben werden. Auch die Rheintöchter hantieren wieder mit den Bildern, Štorman scheint da nichts Neues mehr eingefallen zu sein. Die finale Szene zeigt ein paar Kinder in weißen Kleidern, die aus einem Rinnsal Brocken herausholen, es sollen wohl Stücke des Rheingolds sein. Und eines der Kinder hat den Ring in der Hand, ob aus dem Wasser gefischt oder sonst wo her, bleibt unklar. Am Schluss wirft eines der Kinder den Ring ins Wasser, da, wo er am Schluss auch hingehört, nämlich zu den Rheintöchtern. Hagen schafft es nicht, den Ring an sich zu reißen, er wird von der herabstürzenden Weltesche erschlagen, ein versöhnliches Schlussbild.

Sängerisch ist die Aufführung auf durchweg gutem Niveau, bis auf wenige Ausnahmen. Christiane Libor ist eine stimmlich wie darstellerisch stark präsente Brünnhilde, die ein breites Gefühlsspektrum durchwandert. Von inniger Hingabe, Enttäuschung und Trauer angesichts des Verrats und der Untreue sowie späte, verständnisvolle Liebe bis in den Tod. Sie bewältigt diesen großen Bogen bis zum Ende mit Bravour, moduliert ihre Stimme mühelos von im piano vorgebrachten Passagen bis hin zu gewaltigen Ausbrüchen höchster Emotionalität. Manchmal forciert sie zu stark, dann wirkt die Stimme etwas schrill. In der Eidesszene muss Libor ganz oben von der Orgelempore singen, da kommt sie gegen das forte im Orchester kaum noch durch, sehr unsensibel von Cornelius Meister dirigiert. Die Begegnung zwischen Brünnhilde und Waltraute ist eine der Schlüsselszenen des Abends. Die Stimme der Mezzosopranistin Stine Marie Fischer, die an diesem Abend ihr Rollendebüt gibt, hinterlässt einen bezaubernden Wohlklang, vor allem in der warmen Mittellage. Wie sie innig, voller Verzweiflung versucht, Brünnhilde zu überreden, ihr den Ring zu geben, um den Untergang Walhalls zu vermeiden, das geht unter die Haut. Ihre teils lyrische, teils dramatische Waltrauten-Erzählung ist ein Höhepunkt des Abends.

Daniel Kirch zeigt als Siegfried, dass er, der Held, im Grunde genommen ein naiver Tor geblieben ist, der die Hintergründe des Geschehens, in das er verstrickt ist und in dem er von Hagen ausgetrickst wird, bis zum Schluss nicht begreift und daran auch keinerlei Interesse zeigt. Sein Tenor hat große Strahlkraft in den Höhen, ein baritonales Timbre in der Mittellage, und seine Diktion ist klar und verständlich, dennoch wirkt er vor allem in den ersten zwei Aufzügen etwas angestrengt, aber sein letzter Gruß an Brünnhilde überzeugt. Patrick Zielke als Hagen sowie als Alberich ist stimmlich der grandiose Antiheld. Sein wohlklingender Bass ist fast zu balsamisch für diese Rolle. Doch wenn er seine Mannen im zweiten Aufzug ruft oder am Schluss gegenüber Gutrune verächtlich ausruft, dass er, Hagen, Siegfried erschlagen habe, dann liegt in seinem stimmlichen Ausdruck sowohl Stärke als auch Gefühlskälte. Spielerisch bleibt die Figur aber blass, es fehlt die dominante Aura, was aber an der schwachen Personenregie Štormans liegt.

Esther Dierkes, die als Gutrune ebenfalls an diesem Abend ihr Rollendebüt gibt, bleibt stimmlich hinter ihren Möglichkeiten und ist auch darstellerisch nicht sehr präsent. In den dramatischen Höhen wird ihre Stimmführung eng und der Ton etwas scharf. Ganz im Gegensatz zu Shigeo Ishino als Gunther. Die im Schatten von Hagen stehende Figur kann spielerisch zwar nicht reüssieren, gesanglich beeindruckt Ishino jedoch mit kraftvollem Bariton und starkem Ausdruck. Nicole Piccolomini, Ida Ränzlöv und Betsy Horne als die drei Nornen überzeugen durch harmonischen Gesang und schönes Spiel, gleiches gilt auch für Eliza Boom, Linsey Coppens und Martina Mikelić als die drei Rheintöchter.

Der Chor der Staatsoper Stuttgart darf an diesem Abend mit dem Auftritt als Hagens Mannen im zweiten und dritten Aufzug seinem großen stimmlichen Repertoire eine neue Facette hinzufügen. Kraftvoll, ohne zu dröhnen, und lyrisch, ohne zu säuseln, ist der Chor hervorragend eingestimmt von Manuel Pujol. Am Dirigat von Cornelius Meister scheiden sich an diesem Abend ebenfalls die Geister. Er dirigiert zu kopflastig, analysiert und seziert das Werk und vergisst dabei das wichtigste in der Musik, die Emotion. Die Sänger begleitet er nicht immer sensibel, weniger darauf bedacht, deren Gesang in den Vordergrund zu stellen und dienlich zu begleiten und zu tragen. Ständige Wechsel von Tempo und Lautstärke lassen den großen überspannenden Bogen vermissen, Detailarbeit steht vor dem großen Ganzen. Man könnte sagen, sehr interessanter Ansatz, aber er fesselt nicht. Wenn man als Zuschauer sogar während des Trauermarsches keine Gänsehaut bekommt, dann stimmt einfach was nicht, dann sind Dirigat wie Inszenierung zu beliebig. Es ähnelt daher schon seinem Dirigat in Bayreuth im Sommer letzten Jahres, das auch umstritten war und wo Meister heftige Buhs einstecken musste. Das braucht er an diesem Abend nicht, ganz im Gegenteil, es gibt großen Jubel, als das Orchester am Schluss auf die Bühne kommt, doch der Jubel gilt wohl vordergründig zurecht den engagiert spielenden Musikern des Staatsorchesters Stuttgart, die an diesem Abend bis auf ganz wenige Verspieler bei den Bläsern einen großartigen Job erledigen.

Das Stuttgarter Publikum im ausverkauftem Haus spendet zunächst höflichen Applaus, dann gibt es großen Jubel für die Sänger, aber durchaus differenziert. Besonders Patrick Zielke als Hagen und Alberich wird lautstark gefeiert, auch Stine Marie Fischer darf für ihre beeindruckende Waltrauten-Erzählung Ovationen entgegen nehmen, wohingegen der Jubel für Christiane Libor und Daniel Kirch deutlich sparsamer ausfällt. Chor und Orchester werden umjubelt, und auch das Regieteam bekommt erstaunlicherweise viel Applaus, aber keine Buhs. Es hat fast den Eindruck, das Stuttgarter Publikum feiert sich selbst, weil es diese sechs Stunden durchgehalten hat. Nun ist dieser Ring komplett, ab März wird er dann erstmalig als Zyklus zu sehen sein. Als Neudeutung des großartigen Werkes taugt diese Götterdämmerung nicht.

Andreas H. Hölscher