O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Die Bilder zeigen das Ensemble, nicht aber die besuchte Aufführung - Foto © Jan Pol Dunand

Aktuelle Aufführungen

Glanzpunkt der Saison

ESCLAVOS FELICES/THIRTY/WALLS
(Martin Harriague, Sade Mamedova)

Besuch am
21. Januar 2022
(Einmaliges Gastspiel)

 

Internationale Tanzwochen Neuss, Stadthalle Neuss

Für die Internationalen Tanzwochen Neuss sah es nach der letzten Veranstaltung im vergangenen Dezember nicht so gut aus. Und zunächst scheint es so, als ginge es heute Abend gleich so weiter. Der Parkplatz ist so gut wie leer. Aber offenbar hat das Publikum gewechselt. Denn wie schon gestern Abend in Leverkusen sind die Reihen im Saal deutlich dichter besetzt. Kritik perlt am Veranstalter, dem Kulturamt Neuss, ab. Vielleicht auch, weil momentan niemand mehr dort ist, der sich für die Tanzwochen interessiert. Die neue Künstlerische Leiterin ist inzwischen längst wieder in Berlin. Und so darf man sich auch heute Abend wieder über die Zumutung des Abendzettels ärgern. Rechtschreibfehler so weit das Auge reicht, und irgendjemand scheint Aufzählungen gegenüber Informationen zu bevorzugen. Zur Erklärung für die, die sich heute Abend einmal mehr über den Abendzettel geärgert haben: Wird mit dem Anbieter eines Programms, in diesem Fall die Norddeutsche Konzertdirektion Melsine Grevesmühl, vereinbart, dass er das Werbematerial stellt, entbindet das den Veranstalter nicht von der Qualitätskontrolle. Offenbar außer in Neuss.

In der Stadthalle gibt es heute ein Debüt. Zum ersten Mal tritt die spanische Tanzkompagnie Dantzaz aus San Sebastian auf. 2007 gegründet, haben sich die Verantwortlichen „die Förderung und Entwicklung internationaler Tanzprojekte“ zum Ziel gesetzt und zu diesem Zweck nach eigenen Angaben auch bereits mehr als 140 Tänzer auf ihre Karrieren vorbereitet. Nun ist also das Ensemble selbst nach Neuss eingeladen. Auch heute Abend gibt es keine Neuheiten, sondern drei Choreografien aus den Jahren 2018 bis 2020. Dieses Mal allerdings soll sich das als Vorteil herausstellen. Adriana Pous, künstlerische Leiterin des Ensembles, schickt ihre Tänzer mit den Choreografien von Martin Harriague und Sade Mamedova. Wobei nicht zu erfahren ist, ob es an den gezeigten Werken oder am Ensemble liegt, dass kaum Hebungen oder Sprünge gezeigt werden.

In Esclavos felices, zu Deutsch glückliche Sklaven, dem ersten Stück von Harriague aus dem Jahr 2018, versammeln sich die Tänzer um einen Anführer, der auf dem Boden sitzend einen Plattenspieler in Gang setzt und so die eigens zum Werk komponierte Musik von Juan Crisóstomo de Arriaga zu Gehör bringt. Zu barock klingender Musik bewegen sich die Tänzer in hautfarbenen Kostümen, die der Choreograf zusammen mit Nahia Salaberria entwickelt hat. Dabei faszinieren die Tänzer durch eine ganz eigene Rhythmik, die immer wieder die Vorzüge der Körper in den Vordergrund stellt und dem Auge viel Freude bereitet. Sind es also Sklaven der Musik, die ja nur vergnügt sein können? Oder Sklaven, die einen vergnüglichen Nachmittag verbringen? Die Deutung bleibt offen, die Begeisterung des Publikums fällt lautstark aus. Denn obwohl hier die Musik – wie bei den beiden anderen Stücken – von der Festplatte kommt, stimmt die Akustik, und die Tänzer können eine nahezu perfekte Bindung zu ihr eingehen. Ein besonderes Kompliment geht an Alberto Arizaga, der für alle drei Werke das Licht eingerichtet hat. Er zeigt, wie man mit einem Maximum an Weißlicht die Tänzer glänzend zeigen kann, ohne dass auch nur einen Moment Langeweile aufkommt. Großartig!

Auch für die Choreografie Thirty von Mamedova aus dem Februar 2020 ist eigens eine Musik komponiert worden. Schwer und getragen klingt das Klavier unter den Noten von Mateo Lugo. Die Kostüme von Fanny Alonso erinnern an die einfache Einheitskleidung Kriegsgefangener. Warum der 15-minütige Vortrag 30 heißt, erschließt sich nicht. Es gehe in dem Stück um Migration und Identität in Verbindung mit Kandinskys abstrakter Kunst, ist zu lesen. Zu sehen ist es nicht. Stattdessen erlebt man ein Spiel von Solidarität und Schutz in der Gruppe. Das Ensemble bleibt vergleichsweise geschlossen, unterbindet scheinbar gefährliche Fluchtversuche oder umhüllt seinesgleichen zum Schutz. Immerhin gelingt es Mamedova, hier das Gefühl der Geborgenheit in unsicherer Situation zu erzeugen, auch wenn das auf Kosten hoher Tanzkunst geht. Auch wenn das Stück zum Vorgänger vor allem wegen seiner geringeren Dynamik abfällt, darf es als gelungen durchgehen.

Die Pause ist erfrischend kurz und notwendig. Denn für das zweite Stück Harriagues ist ein wenig Vorbereitung erforderlich. Schließlich muss eine Mauer gebaut werden, um das aufregendste Tanztheater mindestens der letzten zwölf Monate mindestens in Nordrhein-Westfalen erleben zu können. In diesem Fall haben Harriague und Salaberria die Akteure in ziemlich aufregendes Schwarz gekleidet – bis auf einen. Der muss im Anzug mit schwarzer Strumpfmaske und grellblonder Perücke auftreten. Im November 2019 war der Mauerbau des ehemaligen USA-Präsidenten Donald Trump an der mexikanisch-amerikanischen Grenze ein brandaktuelles Thema. In seinem gut halbstündigen Stück Walls, also Mauern, nutzt der Choreograf von der Festplatte eingespielte und künstlerisch bearbeitete Originalzitate eines Verrückten, um zu zeigen, dass Mauern immer nur für kurze Zeit Menschen von der Menschlichkeit abhalten können. Immer wieder muss Arizaga das Licht abblenden, um die Mauer im Hintergrund anschließend in verändertem Zustand zeigen zu können. Beginnend mit der scheinbaren Unüberwindlichkeit, die eine Tänzerin demonstriert, indem sie sich wiederholt erfolglos gegen die Wand wirft, dem Feierakt zur Einweihung der Mauer, bei dem Lametta von der anderen Seite herüberfliegt bis hin zur Brüchigkeit, nachdem die ersten die Mauer doch überwunden haben. Da gibt es die Leidensszenen ebenso wie die Freudentänze zur Musik von Johann Sebastian Bach, Giuseppe Verdi und Yemen Blues. Alle Beschwörungsversuche eines Idioten helfen nicht. Und so wird es immer sein. Gibt es eine bessere Botschaft zu Jahresbeginn? Wenn schon kein Feuerwerk, dann kann doch wenigstens dieses Werk Hoffnung und Kraft für das neue Jahr bringen.

Statt großer Athletik gibt es an diesem Abend großen Einfallsreichtum in den Bewegungssprachen. Zwischen Männlein und Weiblein wird überhaupt nicht mehr unterschieden – ohne daraus eine große Attitüde zu machen. Das ist alles einfach nur witzig, überraschend, eindrucksvoll und bewegend. Schöner hätte die Kompagnie ihren Einstand in Neuss nicht gestalten können. Und man weiß am Ende dieses Abends gar nicht, wer sich mehr freut. Die Zuschauer, die sich zum Applaus erheben, weil sie seit langem wieder einen schönen Abend in der Stadthalle erleben, oder das zehnköpfige Ensemble, das sich mit glückstrahlenden Gesichtern vor geschätzt mehr als 400 Zuschauern wieder und wieder verbeugt.

Michael S. Zerban