O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sebastian Hofer

Aktuelle Aufführungen

Musikalischer Buchspaziergang

BÜCHER UND SCHLÜSSEL
(Diverse Komponisten)

Besuch am
1. August 2023
(Uraufführung)

 

Großer Saal des Akademischen Gesangvereins München

Bereits zum dritten Mal in diesem Jahr präsentiert Kristina Wuss in München eine Musiktheatercollage mit jungen Künstlern. Sie verbindet dabei ein bestimmtes Thema mit bekannten Arien aus Oper und Operette, und inszeniert das als eine Collage aus Theater und Musik. Ende Januar war sie mit einer „musikalischen Weltreise“ zu Gast im großen Saal des Akademischen Gesangvereins München und präsentierte dabei mit Unterwegs ins Unerreichbare eine inszenierte Solistenpräsentation, die sich dem Thema „Musiktheater und Globalisierung“ zuwendet. Hintergrund war der 150. Jahrestag der Veröffentlichung des Romans In 80 Tagen um die Welt von Jules Verne, der im Zentrum dieser sehr erfolgreichen Musiktheatercollage stand.

Nur drei Wochen später entführte die zweite Münchner Musiktheatercollage stimmungsvoll in die Weiten des Meeres mit dem Titel In der Strömung, passend aufgeführt im Deutschen Jagd- und Fischereimuseum. Wieder stand ein Buch als Fixpunkt im Vordergrund, das sich aber diesmal auf historische Fakten bezog. Es handelte sich dabei um das Buch Flaschenpost von Wolfgang Struck. Im Zentrum dieses Buches steht das Leben und Wirken des bayrisch-pfälzischen Geophysikers und Polarforschers Georg Balthasar Neumayer, der mit der althergebrachten Flaschenpost wichtige Erkenntnisse zum Strömungsverhalten der Meere gewonnen hatte.

Christiana Aloneftis – Foto © O-Ton

Nun ist das Ensemble zurückgekehrt in den großen Saal des Akademischen Gesangvereins München, zu einem „Musiktheater der lesenden Art“, so der Untertitel der neuen Collage.  Wieder steht ein Buch im Zentrum des Geschehens, Der Buchspazierer von Carsten S. Henn. Es ist die Geschichte vom alten Buchhändler Carl, der bestellte Bücher jeden Abend zu Fuß zu seinen wenigen verbliebenen Kunden bringt. Eines Tages tritt die neunjährige Schascha in sein Leben und bringt es durcheinander. Erst durch sie wird ihm klar, dass er mit den richtigen Büchern die Leben seiner Kunden verbessern kann.

Auf die Frage, was er seinen Lesern mit diesem Buch auf den Weg mitgeben will, hat Henn gesagt: „Auf welche geradezu magische Art Bücher uns miteinander verbinden können. Indem wir mit anderen über Bücher reden, die uns etwas bedeuten, oder Bücher verschenken, von denen wir wissen, dass sie anderen etwas bedeuten werden. Auch Bücher können, um einen bekannten Liedtext mal etwas abzuwandeln, Brücken sein. Und obwohl es scheint, dass Papier eigentlich kein sonderlich fester Baustoff ist, tragen sie doch schwerste Lasten.“ Und genau hier setzt die neue Collage von Kristina Wuss an und sie erweitert die Geschichte vom Buchhändler Carl. Ihr Musiktheater setzt nach Seite 225 an, der Romandeckel schließt sich. Der Buchspazierer Carl Kollhoff aus Carsten Henns Werk hat mit der Hilfe der neunjährigen Schülerin Schascha ein neues Leben begonnen. Plötzlich erweitert sich seine Route auf die Altstadt von München. Operngestalten begegnen ihm da und Münchner Originale. Carl sah Spiegelungen von Romanen in der realen Welt. Für ihn war die Stadt bevölkert von Personen aus Büchern. Neben diversen Büchern werden auch viele Schlüssel zum Einsatz kommen, im Mittelpunkt steht hier Thekla Foag, besser bekannt als das „Schlüsselfräulein“. Thekla Foag gehörte zu den bekannten „Münchner Originalen“ Ende des 19. Jahrhunderts. Sie betrieb ihr Gewerbe „Schlüssel, Altmetalle und Tandlerei“ in einem kleinen Laden in der Blumenstraße, der im Prinzip nicht viel mehr als ein vollgestopfter Hausdurchgang war. Wenn die zierliche Frau mit einem Riesenschlüsselbund vor der versperrten Tür des Ladens auftauchte, klimperte es gewaltig. Wer auch immer in München einen Schlüssel verloren hatte, der ging zur Thekla und die fand Ersatz. Der zierlichen Frau genügte meist ein kurzer Blick auf ein mitgebrachtes Schloss. Falls der passende Schlüssel nicht dabei war, feilte sie eben ein bisschen nach und erzählte nebenbei Wissenswertes – oft von ihrem Vater, der einst wegen dem „Flitscherl“ Lola Montez auf die Barrikaden gegangen war. Täglich putzte und ölte sie ihre metallenen Schätze.

Constanze Liebert als Buchhändlerin – Foto © Sebastian Hofer

Der Buchhändler Carl Kollhoff und das Schlüsselfräulein Thekla Foag, um diese beiden Figuren herum entwickelt Kristina Wuss ihre neue Kollage Bücher und Schlüssel. Die über 100 Zuschauer im überfüllten Großen Saal des Akademischen Gesangvereins sind gespannt, viele von ihnen gehören schon zum Stammpublikum, die diese Kombination aus musikalischer Darbietung und Theater lieben. Und es gibt auch schon Traditionen, die einfach zu dieser Form des Musiktheaters dazugehören. Das Intro zu Beginn und nach der Pause mit einem Jagdhornruf von Hans Winter, Helmut Knesewitsch am Akkordeon, der gelegentlich Münchner Lieder mit ins Programm bringt, Wolfgang Schlick mit seinem Helikon, und natürlich der unvergleichliche Horst Kalchschmid als Komponist Richard Strauss, der, bewaffnet mit Notenmaterial, Tinte und Feder, als Grandseigneur der Oper immer wieder heiter in das Geschehen eingreift. Den musikalischen Reigen eröffnet die junge Sopranistin Constanze Liebert, die gerade erst vor drei Monaten ihr Master-Studium Gesang abgeschlossen hat und Stipendiatin des Richard-Wagner-Verbands Hannover ist.

Mit der Arie der Juliette aus Gounods Romeo und Julia weiß sie sofort das Publikum für sich einzunehmen, mit lyrischer Phrasierung und strahlenden Höhen. Aber sie kann auch Operette, was sie mit der wunderbaren Arie Grüß Dich Gott, du liebes Nesterl aus Wiener Blut von Johann Strauss unter Beweis stellt oder als Lisa in Lehárs Operette Das Land des Lächelns.

Zwischendurch erscheint dann der bekannte Schauspieler und Kabarettist Norbert Heckner als Buchhändler Carl Kollhoff, verteilt Bücher an Menschen, die sie wollen oder auch nicht, und aus diesen Büchern werden dann auch einzelne Sätze zitiert, die wiederum zu neuen musikalischen Darbietungen überleiten. Die vorgestellten Bücher bieten eine große Spannbreite der Literatur, von Kinderbüchern wie Ronja Räubertochter von Astrid Lindgren über die Unendliche Geschichte von Michael Ende bis hin zum kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry. Klassische Literatur wie Pole Poppenspäler von Theodor Storm oder Goethes Faust werden genauso vorgestellt wie Opernliteratur, namentlich Bel Canto von Ann Patchett, Komm aus dem Staunen nicht heraus von Brigitte Fassbaender oder Die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren von Anja Silja.  Das Buch Münchner Originale von Karl Stankiewitz bildet so etwas wie den literarischen Mittelpunkt, denn einige Figuren daraus werden an diesem Abend lebendig. Und natürlich immer wieder das Hauptbuch des Abends, der Buchspazierer von Carsten S. Henn, dessen Original-Stimme mit einem Zitat aus seinem Buch aus dem Off ertönt.

Constanze Liebert als Buchhändlerin – Foto © Sebastian Hofer

Auf der Bühne ist dann auch die „Meisterklasse“ der Maria Callas zu bewundern, wunderbar dargeboten von der jungen Sopranistin Christiana Aloneftis. Sie rührt später mit der Arie der Prinzessin Jolanthe aus Tschaikowskis gleichnamiger Oper, betört mit der Arie der Musetta aus Puccinis La Bohème und begeistert mit der Sterbeszene der Liu aus Puccinis Turandot.  Sehr eingespannt an diesem Abend ist die Sopranistin Beatrice Mannel, die die meisten Rollen an diesem Abend verkörpern darf. Von der großen Arie an den Mond der Rusalka aus Dvoraks gleichnamiger Oper über die berührende Darbietung als Puccinis Suor Angelica, als Marschallin im Rosenkavalier im Beisein des Komponisten und verschiedene mehr. Und münchnerisch beherrscht sie auch, wie die Darbietung des Liedes Dachauer Bank über die Schauspielerin, Betrügerin und Volkssängerin Adele Spitzeder beweist. Die Mezzosopranistin Ariana Gibbard reüssiert als Octavian und Carmen, während Nataša Đikanović als Arabella und Salome zu begeistern weiß. Der Tenor Alexandros Tsilogiannis schaut vom benachbarten Gärtnerplatztheater kurz vorbei und begeistert mit dem bekannten neapolitanischen Lied Torna a Surriento mit italienischem Schmelz und strahlenden Höhen, die er in der Arie E lucevan le stelle des Cavaradossi aus Puccinis Tosca punktgenau einzusetzen weiß. Der Tenor Stefan Hahn war bei den vorangegangenen Produktionen im Januar und Februar einer der Hauptprotaginsten, für die jetzige Aufführung ist er als Gast zurückgekehrt und verzückt als Sou Chong in Lehárs Land des Lächelns und als Don José in Bizets Carmen das Publikum.

Auch der Bassist Georg Lickleder ist als Gast zurückgekehrt und weiß nicht nur durch seine voluminöse tiefe Stimme zu begeistern, sondern auch durch viel schauspielerisches Geschick. Verdis Falstaff, den Mönch in Verdis Don Carlo und die Wacht am Rhein des Hagen aus Richard Wagners Götterdämmerung weiß er stimmlich sehr präsent darzubieten. Auch der Tenor Moritz Kugler ist dem Publikum schon bekannt, er begeistert mit der Arie des Figaro aus Rossinis Barbier von Sevilla, auch wenn die Partie für ihn viel zu tief ist. Aber das gleicht er mit einer sehr witzigen Darbietung aus, wenn er Georg Lickleder kurzerhand einseift und barbiert. Herrlich komisch! Auch die weiteren kleineren Rollen ergänzen formidabel das gesamte Ensemble. Nicht zu vergessen Mariana Browne mit ihrem Figurentheater, die im Hintergrund passend zu den ausgewählten Stücken kleine Szenen mit ihren Puppen imitiert. Die klassisch-historischen Kostüme hat wiederum Ralf R. Stegemann zur Verfügung gestellt.

Nach knapp drei Stunden endet eine erneut überzeugende und ansprechende Musiktheatercollage. Das Publikum spendet am Schluss lautstarken Applaus und jubelt zurecht den Solisten zu, die so ganz unterschiedliche Facetten ihres Könnens gezeigt haben. Henri Bonamy, der die einzelnen Stücke mit großem Engagement von der Seite dirigiert, und vor allem Thomas Jagusch für seine Mammutleistung am Klavier verdienen sich an diesem Abend einen großen Sonderapplaus für ihre überzeugende Darbietung. Und neben den wunderbaren solistischen Stücken überzeugen die Solisten alle unisono und wieder völlig unprätentiös als Ensemble. Für die jungen Sänger wird hier eine Bühne geboten, um Rollen und Arien auszuprobieren, die sie aktuell noch nicht im Repertoire haben, auch um ihre eigenen stimmlichen Grenzen zu erfahren. Diese Möglichkeiten haben wenige Sänger heutzutage, die schnell ins kalte Wasser des Opernbetriebs  geworfen werden, frei nach dem Motto „Friss oder stirb“.

Kristina Wuss hat es wieder einmal geschafft, zwei unterschiedliche Genres, die Literatur und die Musik, an einem Abend kongenial zu verbinden und dabei ein unterhaltsames und musikalisch ansprechendes Programm auf die Bühne zu bringen.

Andreas H. Hölscher