O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bural Kücük

Aktuelle Aufführungen

Musikalische Weltreise

UNTERWEGS INS UNERREICHBARE
(Diverse Komponisten)

Besuch am
23. Januar 2023
(Uraufführung)

 

Theater-Werk München im Akademischen Gesangverein München, Großer Saal

Mitten im Herzen von München, unweit der Staatsoper, steht das altehrwürdige Gebäude des Akademischen Gesangvereins München mit seinem großen historischen Saal. An diesem nasskalten Abend ist die Regisseurin Kristina Wuss mit dem Theater-Werk München und einer großen Anzahl von Künstlern zu Gast. Sie alle nehmen an einem Kurs teil, der ihnen die Möglichkeit bietet, auch während einer Phase der nicht regulären Beschäftigung weiter in ihrem Beruf zu arbeiten und sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Mit diesem Konzept bietet das Theater-Werk München eine Plattform der Fortbildung, des Austauschs und der Vernetzung. Eine großartige Möglichkeit, die sowohl von Kristina Wuss als auch den Solisten des Abends mit großem Engagement wahrgenommen wird.

Das Programm klingt geheimnisvoll: Unterwegs ins Unerreichbare, eine inszenierte Solistenpräsentation, die sich dem Thema „Musiktheater und Globalisierung“ zuwendet. Hintergrund ist der 150. Jahrestag der Veröffentlichung des Romans In 80 Tagen um die Welt von Jules Verne. Der Roman wurde erstmals am 30. Januar 1873 unter dem französischen Titel Le Tour du monde en quatre-vingts jours von dem Verleger Pierre-Jules Hetzel veröffentlicht. Die erste deutschsprachige Ausgabe erschien im selben Jahr im Verlag der Gebrüder Légrády in Pest unter dem Titel Reise um die Erde in 80 Tagen. Im Mittelpunkt dieses Romans steht der reiche englische Gentleman Phileas Fogg, ein Exzentriker in Sachen Pünktlichkeit und täglicher Gewohnheiten sowie ein leidenschaftlicher Whist-Spieler. Er wettet mit anderen Mitgliedern des Londoner Reform Club um 20.000 Pfund Sterling, dass es ihm gelingen werde, in 80 Tagen um die Welt zu reisen. Noch am selben Abend bricht er mit seinem gerade erst eingestellten französischen Diener Jean Passepartout auf. Mit dem Zug fahren sie über Paris nach Brindisi, wo sie das Dampfschiff nach Bombay durch den Suez-Kanal besteigen. In einem Reisesack hat Fogg 20.000 Pfund Sterling dabei, die andere Hälfte seines Vermögens. Nach zahlreichen Abenteuern gelingt Fogg das scheinbar unmögliche, in letzter Sekunde hat er sein Ziel erreicht und die Wette gewonnen. Ein berühmtes Zitat von Gauthier Ralph aus diesem Roman lautet: „Ich teile Mr. Foggs Ansicht. Die Erde ist kleiner geworden, weil wir sie heute zehn Mal schneller umrunden können als noch vor 100 Jahren.“

Und das gilt auch für die Musik. Die renommierte Regisseurin Kristina Wuss ist bekannt für ihre projektbezogenen Regiearbeiten, die sich immer einem speziellen Thema widmen. Nun nimmt sie die gut 100 Zuschauer im Saal mit auf eine musikalische Weltreise auf den Spuren von Phileas Fogg, dessen Reise-Route an diesem Abend naturgemäß musiktheaterbedingte Abweichungen erfährt. So gibt es Opern-Begegnungen der besonderen Art in München, Wien, aber auch mit Sarah Bernhardt auf ihrem Ballon in Paris, in einer Garderobe der Metropolitan Opera in New York, auf einer Kleinkunstbühne in Yokohama, in der Werkstatt eines Münchner Komponisten, in einer Chorprobe in Brindisi, in Klingsors Zaubergarten. Bei dieser Aufzählung wird schnell klar, das ist ein buntes und breit gefächertes Programm. Beteiligt an diesem künstlerischen Experiment sind Solisten aus neun Städten Deutschlands, die jetzt auf vier Kontinenten auf der Suche nach dem Glück sind. Die Frage des Abends lautet: Ist Phileas Fogg der einzige, dessen Plan aufgeht, oder kann Kristina Wuss mit dem ambitionierten Plan mithalten und an einem Abend eine musikalische Weltreise durchführen?

Maria Helgath und Stefan Hahn – Foto © Bural Kücük

Die Opern- und Operettenarien, die an diesem Abend erklingen, sind alles Wunschstücke der Solisten, mit großen Stücken von Richard Wagner, Richard Strauss, über Verdi, Mozart bis hin zu Kurt Weill und diversen bekannten Operettenmelodien. Die große Kunst des Abends ist, einen roten Faden zu haben und die Analogie zur Weltreise von Phileas Fogg zu zeigen, was naturgemäß nicht immer möglich ist. Was aber diesen Abend so einzigartig macht, ist, dass alle Solisten sich auch als Ensemble verstehen und Chor, Statisten, Staffage mit übernehmen. Eine Musiktheatercollage mit allen Facetten der Theaterkunst.

Der Abend beginnt mit fast einer Viertelstunde Verspätung, da bis zum Schluss noch letzte Vorbereitungen und Improvisationen getroffen werden müssen. Eröffnet wird der Reigen mit einem Jagdhornruf von Hans Winter in bayrischer Ledertracht. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer ist sofort da. Auf der kleinen Bühne sitzt die Gesellschaft um Phileas Fogg, dargestellt von dem Tenor Stefan Hahn, und diskutiert die Idee, in 80 Tagen um die Welt zu reisen. Die Gesellschaft bekommt kurzerhand Zuwachs durch einen Ehrengast, den Komponisten Richard Strauss, sehr authentisch dargestellt von Horst Kalchschmid. Die Wette wird besiegelt, und Phileas Fogg begibt sich mit Jean Passepartout, dem Bariton Moritz Kugler, auf die Reise. Szenisch untermalt wird das Ganze auch noch durch ein kleines Figurentheater, wie wir es aus unserer Kindheit kennen. Nostalgie spielt an diesem Abend auch eine große Rolle. Musikalisch eröffnet wird der Abend von der Sopranistin Vera Senkovskaia mit einer Arie der Nannetta aus Verdis Falstaff.  Und bevor die Altistin Ariana Lucas als Mrs. Quickly und der Bassist Georg Lickleder als Falstaff sich im Duett beharken, darf die Sopranistin Julia Thornton als Lady Billows in Benjamin Brittens Albert Herring die Dramatik in der Stimme ausloten.

Die Sopranistin Domenica Radlmaier liebt die Operette, und dass sie dieses wunderbare Fach auch beherrscht, beweist sie mit dem gelungenen Auftrittslied der Hanna Glawari aus Franz Lehárs Operette Die lustige Witwe. Und die Glawari stellt gleichzeitig die große französische Schauspielerin Sarah Bernhardt während einer Ballonfahrt dar. Das erfordert jedoch vom Publikum, um das alles nachvollziehen zu können, schon eine enorme Portion literarischer Kenntnisse. Dass Phileas Fogg alias Alfredo aus Verdis La Traviata über seine Situation nachdenkt, ist dem Programmzettel zu entnehmen, ohne dessen stichwortartige Anleitung der Reise man als Zuschauer schnell verloren ist. Stefan Hahn singt die Arie mit viel tenoralem Schmelz und markigen Höhen. Von Verdi wieder zurück nach Lehár, Passepartout ist jetzt Graf Danilo Danilowitsch in der Lustigen Witwe, erinnert sich an seine Zeit in Paris, wo er immer zu „Maxim“ gegangen ist. Moritz Kugler singt diese wohl bekannteste Operettenarie mit schmeichelndem Bariton, während sich auf der kleinen Bühne ein paar Grisetten dehnen und für die amourösen Abenteuer vorbereiten. Bei Wuss sind all diese Opern- und Operettenfiguren miteinander verwoben, und so wundert es nicht, dass eine alte Bekannte von Danilo auftaucht. Nein, es ist nicht Hanna, es ist die Carmen aus Georges Bizets gleichnamiger Oper. Die Mezzosopranistin Maria Helgath gestaltet die Habanera der Carmen L’amour est un oiseau rebelle mit erotisch warmer Stimme und großem Ausdruck und streckt Danilo, oder ist es doch Passepartout, am Schluss zu Boden.

Nanami Chiba, Charlotte Kouby und Moritz Kugler – Foto © Bural Kücük

Die Reisegruppe ist mittlerweile in München angekommen, Phileas Fogg versucht verzweifelt, einen Stempel in seinen Pass zu bekommen, und der Akkordeonspieler Hans Dornecker intoniert den Touristenklassiker In München steht ein Hofbräuhaus sehr zur Erheiterung der Zuschauer, von denen einige sofort gute Kenntnis dieses Liedes beweisen und miteinstimmen. Richard Strauss, mittlerweile im Publikum sitzend, spendiert den Weltreisenden Fogg und Passepartout eine Flasche Münchner Bier, soviel Lokalkolorit muss sein.

Dieser Wechsel der Genres, der Stile, der Werke, ohne Rücksicht auf thematische Übergänge oder Zusammenhänge, ist einerseits immer wieder überraschend und erfrischend, andererseits aber auch manchmal grenzwertig, weil vieles nicht zueinander passt, und man in einem „normalen“ Konzert mit Opern- und Operettenarien so ein Programm nicht anböte, schon gar nicht in dieser Reihenfolge. Man darf aber nicht vergessen, die vorgetragenen Stücke sind alles Wünsche der Solisten, die von Wuss in eine gewisse Dramaturgie gebracht werden, was leider nicht immer gelingt. Auch für die Zuschauer ist das nicht leicht, man merkt es am fehlenden Applaus nach den großen Arien, was wiederum für die Protagonisten auf der freien Fläche des Saals auch nicht einfach ist, da es wenig Feedback von den Zuschauern gibt. Lediglich bei der „leichten Muse“ tun sich die Zuschauer leichter und spendieren auch schon mal, wenn auch verhalten, Szenenapplaus.

Von München geht es musikalisch weiter nach Wien, wo die Fiakermilli aus Richard Strauss‘ Arabella schon wartet. Die Koloratursopranistin Nataliia Ulasevych macht ihrer Stimmfachbeschreibung alle Ehre. Mit kokettem Auftritt und perlenden Koloraturen, sauber bis in die höchsten Höhen, setzt sie einen ersten Glanzpunkt an diesem Abend. Es bleibt beim harten Wechsel der Stile. Die Alpenreise beginnt, und da taucht plötzlich Brünnhilde auf und überrascht ihren Göttervater Wotan mit der ersten Szene aus dem zweiten Aufzug der Walküre von Richard Wagner. Marija Grauba, kurzfristig für eine erkrankte Kollegin eingesprungen, legt einen formidablen Auftritt hin, in einem Kostüm, wie es sich heute kein Regisseur mehr auf der Bühne trauen würde, mit Flügelhelm. Eine Reminiszenz an das 19. Jahrhundert, aber passend zu der Zeit des Romans von Jules Verne. Die teils opulenten und historischen Kostüme an diesem Abend besorgte Ralf Rainer Stegemann aus seinem Kostümverleih. Brünnhilde duelliert sich mit Wotan, engagiert von Georg Lickleder interpretiert, und haut diesen am Schluss zu Boden, auch Fogg und Passepartout bekommen die übernatürlichen Kräfte des Wotanskindes zu spüren. Das ist wieder so ein humorvoller Einfall von Wuss, der einem nicht nur zum Schmunzeln bringt, sondern auch darüber nachdenken lässt, wie einfach man konventionelle Banden in der Opernregie sprengen kann.  

Ein neuerlicher Genresprung führt von Wagner zu Fred Raymond und dessen bekanntester Operette Maske in Blau.  Nataliia Ulasevych, die schon als Fiakermilli brilliert hat, zeigt mit dem Lied Ja das Temp’rament der Juliska Varady, dass sie nicht nur hervorragend steppen kann, sondern auch gesanglich eine Marika Rökk um Längen schlägt, die mit dieser Rolle einst bekannt wurde. Allerdings ist die steppende Juliska eigentlich Despina aus Mozarts Così fan tutte. Und mit dem Duett der Schwestern Dorabella und Fiordiligi aus dieser Oper, wunderbar vorgetragen in historischen Kostümen von Charlotte Kouby und Vera Senkovskaja, ist man mittlerweile im italienischen Ferrara angekommen. Ariana Lucas als Wahrsagerin Ulrica aus Verdis Maskenball denkt derweil laut darüber nach, wie die Reise wohl weitergehen soll, wieder ein imposanter Auftritt der quirligen Altistin. Von Ferrara führt die Weltreise weiter nach Brindisi, und das ist nicht nur der Name einer italienischen Hafenstadt in Apulien, sondern auch der Begriff für ein Trinklied, wie es in zahlreichen italienischen Opern vorkommt. Eines der bekanntesten Brindisi ist das Duett Libiamo ne’ lieti calici von Alfredo und Violetta im ersten Akt von Verdis La traviata. Nadia Zanatello und Stefan Hahn interpretieren es mit viel italienischem Schmelz, während der Rest des Ensembles als Reisegruppe einen höchst veritablen Chor intoniert. Von Brindisi aus besteigen die Weltreisenden die „Mongolia“, um als nächstes den Suezkanal zu passieren. Bei einer Tasse Mocca erklärt Ulasevych alias Blonde Lickleder in der uncharmanten Rolle des Osmin aus Mozarts komischer Oper Die Entführung aus dem Serail, wer hier das Sagen hat und flechtet aus den langen Haaren Lickleders erst mal einen Zopf.

Nach der Passage des Suezkanals geht es Kurs auf Indien, und Phileas Fogg hängt seinen Träumen nach, mit einer wundervollen Darbietung aus dem Liverpool Oratorio, dem ersten klassischen Werk von Paul McCartney, eingeleitet mit einem fulminanten Klaviersolo von Thomas Jagusch. Ein absoluter Glanzpunkt an diesem Abend. Derweil wird Klytämnestra von ihrem Gewissen geplagt, träumt nicht gut. Ich habe keine guten Nächte singt Maria Helgath mit ausdrucksvollem Mezzosopran die anspruchsvolle Arie aus der Oper Elektra von Richard Strauss, und das ganze Ensemble erscheint mit einem Schmetterling in den Händen. Es sind wieder diese harten Übergange in Stil und Ausdruck, von Paul McCartney über Richard Strauss zu Wolfgang Amadeus Mozart, die das Publikum teilweise überfordern, sich in wenigen Momenten auf so unterschiedliche musikalische Epochen einzustellen. Als letztes Stück vor der Pause intoniert Nadia Zanotello die Elettra aus Mozarts Idomeneo, dargestellt aber als die Romanfigur Aouda, eine indische Witwe, die von Fogg und seinen Gefährten vor dem sicheren Feuertod auf dem Scheiterhaufen gerettet wird. Sehr gefühlvoll und intonationssicher wird diese „Wahnsinnsarie“ von Zanotello dargebracht. Doch wer als Zuschauer weder die Oper Idomeneo noch den Roman von Jules Verne kennt, der hat schon seine Schwierigkeiten, die Sängerin mit Kastenzeichen auf der Stirn und indischem Sari in ihrer Doppelrolle als Aouda und Elettra richtig einzuordnen.

 

Die anschließende Pause benötigen nicht nur die Sängerdarsteller, auch das Publikum freut sich über eine kleine Erholungspause, um die vielen musikalischen Eindrücke zu verarbeiten. Dass dabei dem Publikum, das lediglich zehn Euro Eintritt für diesen überwältigenden musikalischen Abend gezahlt hat, in der Pause auch noch kostenlos Wasser und Gebäck angeboten wird, das ist schon mehr als außergewöhnlich und spricht für das schon fast familiäre Ereignis an diesem Abend.

Moritz Kugler und Gillian Crichton – Foto © Bural Kücük

Der zweite Teil geht auf demselben hohen musikalischen Niveau weiter, der wiederum durch einen Hornruf eingeleitet wird. Zanotello alias Aouda eröffnet den zweiten Teil mit einem Zitat der großen Wagner-Sängerin Anja Silja: „Es ist gefährlich und unprofessionell, sich mit einer Rolle wirklich zu identifizieren. Wenn ich von einer Partie sagen könnte, das ‚bin ich‘, wäre sie für mich nicht mehr darstellbar. Man kann nur Ähnlichkeiten schaffen.“ Es ist ein Zitat aus  Siljas Buch Die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren – Wege und Irrwege aus dem Jahre 1999, das auch Titelgeber für die programmatische Gestaltung des Abends ist. Mit der Arie Es gibt ein Reich, wo alles rein ist aus der Oper Ariadne auf Naxos von Richard Strauss widmet sich Zanotello einem äußerst anspruchsvollen Stück, das einst von Elisabeth Schwarzkopf und Jessye Norman in Perfektion eingespielt wurde. Zu Beginn gestaltet Zanotello die Arie etwas zurückhaltend mit sonorer Mittelstimme und tiefer Bruststimme. Die Arie ist anspruchsvoll, und Zanotello gibt ihr mit dem Tempo Vorwärtsdrang und Prägnanz. Als sich das Stück seinem Höhepunkt nähert, wächst ihre Stimme und blüht schließlich bei „An dich werd‘ ich mich ganz verlieren“ auf. Eine wunderbare Darbietung. Die noch entrückten Zuschauer werden aber ganz schnell von Wolfgang Schlick an der Helikon-Tuba aus ihren Träumen gerissen, der ein lautes Elefantengetröte fabriziert. Wir sind wieder bei Jules Verne, mittlerweile hat Phileas Fogg den Elefanten Kiouni seinem Besitzer im indischen Weiler Kholby abgekauft und nach einigen Abenteuern gibt Fogg Kiouni dem Begleiter als Geschenk.

Mittlerweile sind die Weltreisenden in Hongkong angekommen, und Passepartout wird von Mr. Fix zum Opiumrauchen eingeladen, um ihn von Phileas Fogg und Aouda zu trennen. Dazu erklingt fulminant am Klavier In der Halle des Bergkönigs  aus der Peer-Gynt-Suite von Edvard Grieg. Das Opium und die aufladende Musik Griegs zeigen ihre Wirkung, Passepartout ist völlig bekifft und träumt, er wäre Parsifal, und im Traum erscheinen ihm zunächst die Blumenmädchen, dann Kundry. Parsifal ist von den Blumenmädchen zunächst fasziniert, beschließt dann aber, ihren Verlockungen zu entfliehen. In diesem Moment ruft Kundry ihn bei seinem Namen. Gebannt lauscht der Knabe ihrer Erzählung vom traurigen Schicksal seiner Eltern. Tröstend, aber mit der Absicht, ihn in die Liebe einzuführen, schließt sie ihn in ihre Arme. Diese lange Szene aus dem zweiten Aufzug von Richard Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal ist ein weiterer Höhepunkt des Abends. Die Solistinnen singen die Blumenmädchen, der Bariton Moritz Kugler gibt den Parsifal mit warmem Timbre, und die Mezzosopranistin Gillian Crichton zeigt mit warmer Mittellage und dramatischem Ausdruck in den Höhen, das diese Partie ihr ideal liegt. Nach Kundrys Kuss erwacht Passepartout wieder, er hat das Schiff „Carnatic“ verpasst und stattdessen auf der „Tancadére“ eingeschifft.

Das nächste Ziel ist das japanische Yokohama. Währenddessen schwärmen sich Phileas Fogg und Aouda an, mit dem wunderbaren Duett All I ask of You aus Andrew Lloyd Webbers Musical The Phantom of the Opera. Zanotello als Christine und Hahn als Raoul haben für diese romantische Darstellung einen großen Sonderapplaus verdient. Wir sind ja in Yokohama, und die junge Sopranistin Nanami Chiba gibt hier eine Intendantentochter, die die Arie der Julia Strahlender Mond aus der Operette Der Vetter aus Dingsda von Eduard Künneke mit glockenhellem Sopran und leuchtenden Höhen intoniert. Dann trifft sie auf Passepartout und singt mit ihm das Duett: Mädel guck … Das ist die Liebe die dumme Liebe aus Emmerich Kálmáns Csárdásfürstin. Chiba als Stasi und Moritz Kugler als Boni schmachten sich da herrlich an. Der nächste Höhepunkt ist das Lied Sakura Yokochô des japanischen Komponisten Yoshitaka Nakada aus dem Jahre 1962, ein melancholisches Lied über die Kirschblüte an der Sakura Straße, sehr innig von Chiba in ihrer Muttersprache japanisch vorgetragen, ein ganz besonderer Moment.

Die Fahrt über den Pazifik erfolgt mit der „General Grant“, das Schiff ist mittlerweile in San Francisco angekommen, und wir sind wieder bei Mozart angekommen, bei Don Giovanni. Zunächst erklingt das dramatisch-lyrische Duett Don Ottavio, son morta, sehr gefühlvoll von der Sopranistin Domenica Radlmaier als Donna Anna und dem Tenor Berthold Schindler als Don Ottavio in einem kurzen Gastauftritt in historischen Kostümen dargeboten. Mit der anschließenden großen dramatischen Arie Or sai chi l’onore der Donna Anna zeigt die Radlmaier eindrucksvoll, in welche Richtung der künstlerische Weg der noch jungen Sopranistin hinführen kann.

Nach diesem starken Auftritt kommt der nächste Einschnitt. Man ist mittlerweile in den Rocky Mountains, und Hans Dornecker am Akkordeon intoniert Country Roads von John Denver, ein schon sehr krasser Kontrast zu Mozart. Weiter geht es wieder mit Wagner, und Mr. Fix alias Wotan wird im Rheingold von einem Raben überrascht. Es ist die große Szene Abendlich strahlt der Sonne Auge, bevor Wotan mit seiner Gattin Fricka und den Göttern in die Burg Walhall einzieht. Lickleder kommt hier mit der Darbietung allerdings an seine sängerischen Grenzen, der Rheingold-Wotan ist zu hoch für ihn gelagert, und in den dramatischen Höhen quält er sich. Witzig dagegen der Auftritt von Helgath, die als tanzender Rabe Wotans zeigt, dass sie nicht nur eine exzellente Mezzosopranistin ist, sondern auch sehr viel von körperlichem Ausdruck versteht. Es geht mit Wagner weiter, doch zuvor intoniert Dirk Rabe an der Gitarre den alten Kultsong Don‘t be cruel von Elvis Presley. Cool interpretiert, trotzdem zwischen zwei großen Wagner-Szenen etwas deplatziert. Mit der großen Szene Wotan – Fricka aus dem zweiten Aufzug der Walküre folgt der nächste Höhepunkt. Der Walküren-Wotan liegt Lickleder deutlich besser, und Kouby zeigt mit einem fulminanten Auftritt als Göttergattin Fricka, dass sie das Potenzial hat, diese anspruchsvolle Partie in nicht allzu ferner Zukunft auch auf der Bühne zu verkörpern, wenn sie die Chance dazu erhält. Das Göttergattenduell endet in einem Boxkampf, in dem Wotan natürlich den Kürzeren zieht und auch Passepartout wird von Fricka niedergestreckt. Anschließend bekommt Passepartout in Arizona Hunger, und welche Arie wäre passender als Rallala Rallala … Hunger ist der beste Koch des Besenbinder Peter aus Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel.

Domenica Radlmaier und Moritz Kugler – Foto © Bural Kücük

Währenddessen entdeckt Helgath immer noch als Wotans Rabe den Hügel von Alexander Strauch. Strauch hat dieses  zeitgenössische Lied am 18. Mai 2001 im IC 523 „Amalienburg“ auf der Fahrt zwischen Nürnberg und Augsburg auf ein Gedicht von Diana Kempff komponiert, und Maria Helgath und Vera Senkovskaja  interpretieren es mit sehr starkem Ausdruck. Es ist das einzige Stück in diesem Programm, das kein Wunsch der Solisten war, sondern von Wuss mit aufgenommen wurde. Nach einem Helikon-Tuba-Solo ist die Reisegruppe mittlerweile in New York angekommen, und die Intendantin der MET hat ein Problem mit den Primadonnen. Ulasevych legt erneut einen begeisternden Auftritt hin mit dem Lied der Harriet Ach wir armen Primadonnen aus der Operette Der arme Jonathan von Carl Millöcker. Auch Elvis alias Dirk Rabe an der Gitarre darf nochmal ran, mit einer fetzigen Interpretation von Blue Suede Shoes. Passend zur Location New York singt Anne Morrant in Street Scene von Kurt Weill von ihren Jugendträumen, Julia Thornton interpretiert das Lied mit viel Gefühl.

Die Reise in 80 Tagen um die Welt nähert  sich dem Ende, es erfolgt die Überfahrt nach Großbritannien mit der „Henrietta“. Phileas Fogg tritt auf als August Kuhbrot, der erste Fremde aus der Operette Der Vetter aus Dingsda von Eduard Künneke mit dem Klassiker Ich bin nur ein armer Wandergesell. Hahn singt dieses Lied mit viel Gefühl und tenoralem Schmelz. Er bringt anschließend die Kapitänin des Schiffs dazu, den Kurs zu ändern. Um Tempo zu machen, werden die hölzernen Teile im Schiffskessel verbrannt, was zu einer großen Explosion führt, aber die Reisenden bleiben unverletzt. In Großbritannien angekommen, entdeckt Passepartout alias Graf Danilo Danilowitsch seine alte Liebe Hanna Glawari, die er zu Beginn der Reise in Paris kennengelernt hatte. Die Freude über das Wiedersehen drücken Sie in dem Liebesduett Lippen schweigen aus der Operette Die Lustige Witwe von Franz Lehár sehr innig aus. Phileas Fogg erscheint in letzter Sekunde wieder im Reform Club London und gewinnt seine Wette. Seiner Aouda macht er als Prinz Sou-Chong mit dem Herzensbrecherlied Dein ist mein ganzes Herz aus Lehárs romantischer Operette Das Land des Lächelns eine Liebeserklärung. Und Mr. Fix alias Georg Lickleder macht sich auf den Weg nach neuen Ideen und zeigt, dass er nicht nur über einen markanten Bass verfügt, sondern auch an der Gitarre zu reüssieren weiß.

Nach über dreieinviertel Stunden geht ein langer und bewegender Musiktheaterabend zu Ende. Das Publikum, das tapfer durchgehalten hat, spendet am Schluss lautstarken Applaus und jubelt zurecht den Solisten zu, die so ganz unterschiedliche Facetten ihres Könnens gezeigt haben. Henri Bonamy, der die einzelnen Stücke mit großem Engagement von der Seite dirigiert hat, und vor allem Thomas Jagusch für eine Mammutleistung am Klavier haben sich an diesem Abend einen großen Sonderapplaus für ihre überzeugende Darbietung verdient. Und neben den wunderbaren solistischen Stücken überzeugen die Solisten unisono und völlig unprätentiös als Ensemble, auch eine wunderbare Erfahrung. Kristina Wuss hat es geschafft, die literarische Weltreise in eine musikalische umzuwandeln, auch wenn der Sprung zwischen den Genres und den Stilen manchmal grenzwertig ist. Aber so ist das auf einer Weltreise, da begegnet man so manchem Unvorhergesehenem. Den Sängern, die sich an diesem Abend mit so vielen Facetten ihrer Kunst präsentiert haben, bleibt nur zu wünschen, dass sie auf ihrem weiteren künstlerischen Weg Erfolg haben werden. Und Wuss ist schon wieder in den Proben für das Stück In der Strömung, das am 10. Februar im Deutschen Jagd- und Fischereimuseum München Premiere haben wird.

Andreas H. Hölscher