Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
IN DER STRÖMUNG
(Kristina Wuss)
Besuch am
10. Februar 2023
(Uraufführung)
Theater-Werk München im Deutschen Jagd- und Fischereimuseum München
Wer in München ein Museum besuchen mochte, der hat die Qual der Wahl. Neben dem großen Deutschen Museum und den Pinakotheken gibt es Dutzende von interessanten Ausstellungsräumen, die entdeckt werden wollen. Eins davon ist das Deutsche Jagd- und Fischereimuseum, das sich seit 1958 in der ehemaligen Augustinerkirche mitten im Zentrum von München befindet, unweit der Frauenkirche. Herzstück ist der Weiße Saal, der durch seine einzigartige Architektur besticht. Der hohe, imposante Raum präsentiert an der Wand und in Vitrinen eine vielseitige Bandbreite eindrucksvoller Exponate, die die Geschichte der Jagd darstellen. Die weißen Wände mit ihren bestuckten und figurativen Pilastern und die großen Kirchenfenster des Saals schaffen eine einmalige Atmosphäre. Ein idealer Raum für ein Konzert, mit einer wunderbaren Akustik. Die beiden alten hohen Treppen dienen hierbei als Zuschauerraum.
Vor knapp drei Wochen hat die Regisseurin Kristina Wuss im großen historischen Saal des Akademischen Gesangvereins München die Musiktheatercollage Unterwegs ins Unerreichbare, frei nach Jules Vernes Roman In 80 Tagen um die Welt inszeniert, mit jungen Sängern, die mit ihren Wunschstücken ein begeisterndes Konzert dargeboten haben. Nun stand bereits das zweite Konzert auf dem Programm, in fast identischer Sängerbesetzung und mit demselben Konzept, mit dem bezeichnenden Titel In der Strömung. Erneut steht ein Buch als Fixpunkt im Vordergrund, das sich aber diesmal auf historische Fakten bezieht. Es handelt sich dabei um das Buch Flaschenpost von Wolfgang Struck, im vergangenen September im Hamburger Mare-Verlag erschienen. Im Zentrum steht das Leben und Wirken des bayerisch-pfälzischen Geophysikers und Polarforschers Georg Balthasar Neumayer, der mit der althergebrachten Flaschenpost wichtige Erkenntnisse zum Strömungsverhalten der Meere gewonnen hatte.
Es ist der 14. Juli 1864, kurz vor Kap Hoorn bei Windstärke elf: Eine Flaschenpost wird auf die Reise geschickt, die bis heute unser Verständnis vom Meer und von globalen Zusammenhängen prägt. Denn mit dieser und vielen weiteren Flaschen, die mit der Bitte um Rücksendung gefüllt waren, begründete Georg Neumayer die maritime Strömungsforschung. Sein groß angelegtes Experiment dokumentierte er in Alben, in denen er über 600 Antworten auf die schwimmenden Botschaften sammelte. Die Alben betrachtend, berichtet Wolfgang Struck, Inhaber einer Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt, von den oft rätselhaften Routen der Flaschen, aber auch von den Kapitänen und Passagieren, die sie aussetzten, von Fischern, Strandgutsammlerinnen und Hafenbeamten, die sie fanden – und weitet seinen Blick auf den überaus spannenden wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Weg, den die Flaschenpost nicht erst seit Neumayers Experiment zurücklegte. Ein faszinierendes Buch über eine eigenwillige Form der Nachrichtenübermittlung, die seit mehr als 150 Jahren Wissenschafts- und Kulturgeschichte geschrieben hat. Das Thema Flaschenpost ist bei diesem Konzert der verbindende Handlungsstrang zwischen dem Buch und der Musiktheatercollage. Und es ist die Verbindung zur laufenden Ausstellung „Wasserwelten“ im Jagd- und Fischereimuseum München. Wuss nimmt das Thema der Flaschenpost auf, die Formulare mit den Rückantworten beinhalten jedoch keine Koordinaten, sondern die Wunschstücke der Solisten, denn die Flaschen schwimmen im Weltmeer des Musiktheaters. Für Georg Balthasar Neumayer und seinen Mitarbeiter Eduard Brinkmann eine ganz neue Herausforderung.
Im Gegensatz zum ersten Konzert vor drei Wochen ist der Abend deutlich verkürzt, mit Schwerpunkt auf Werken von Richard Wagner, Richard Strauss, Giacomo Puccini und Wolfgang Amadeus Mozart. Die etwa 100 Zuschauer sitzen auf Kissen auf den Treppenstufen, in Decken warm verpackt, denn das Museum ist nicht beheizt, doch die zündende Musik und die Nähe zu den Künstlern des Abends wird schnell für Wärme sorgen. Hans Dornecker am Akkordeon eröffnet mit einem Intro den musikalischen Reigen. Wir befinden uns im Palais der Feldmarschallin aus dem Rosenkavalier von Richard Strauss. Doch bevor die Fürstin Werdenberg zu ihrem Einsatz kommt, erhält Elisabeth aus Wagners Oper Tannhäuser per Flaschenpost eine gute Nachricht. Nádia Zanotello gestaltet die Hallenarie mit leicht jugendlich-dramatischem Sopran, einer warmen Mittellage und klaren Höhen und zeigt, welchen Weg ihre weitere künstlerische Entwicklung gehen könnte. Von Richard Wagner geht es zu Jacques Offenbach und seiner „fantastischen Oper“ Hoffmanns Erzählungen. Im Mittelpunkt des zweiten Aktes steht dessen Liebe zu Olympia. Was Hoffmann nicht weiß, Olympia ist eine lebensgroße, bezaubernd aussehende, mechanische Puppe, eine fast perfekte Schöpfung des Physikers Spalanzani. Das von ihr intonierte Lied Les oiseaux dans la charmille hat nicht nur einen simplen Text und klingt im Ausdruck wie mechanisch vorgetragen, sondern wird obendrein zweimal unterbrochen, weil die Puppe neu aufgezogen werden muss.
Die Koloratursopranistin Nataliia Ulasevych ist in ihrem Fach für die Olympia eine Idealbesetzung. Vor drei Wochen begeisterte sie als Fiakermilli, jetzt perlen die Koloraturen erneut, sauber bis in den höchsten Höhen, mit herrlich komischem Puppenspiel, ein umjubelter Auftritt. Dann erfolgt eine kurze Lesung aus dem Buch Flaschenpost, der Autor Wolfgang Struck ist persönlich anwesend und spricht selbst den Text. Anschließend gibt es den ersten von mehreren Gänsehautmomenten an diesem Abend. Ariana Lucas interpretiert die Erda-Szene Weiche Wotan! Weiche aus Wagners Rheingold mit tiefwarmer Altstimme und großem Ausdruck und sehr textverständlich, während im Hintergrund zwei Solisten mit einem großen Tuch Wellenbewegungen des Wassers imitieren. Wenn vom Meer die Rede ist, dann darf der Wind natürlich nicht fehlen. Passend dazu erklingt das Terzett Soave sia il vento – Weht leiser, ihr Winde – aus der Oper Così fan tutte von Wolfgang Amadeus Mozart. Der Bariton Moritz Kugler als Don Alfonso, die Sopranistin Vera Senkovskaja als Fiordiligi und die Mezzosopranistin Charlotte Kouby als Dorabella überzeugen durch eine perfekte Stimmenharmonie. Es bleibt beim Thema Meer und Sturm, und da darf natürlich eine Oper nicht fehlen: Der fliegende Holländer von Richard Wagner. Maria Grauba, die im ersten Konzert vor drei Wochen als Brünnhilde begeisterte, singt an diesem Abend die Ballade der Senta. Doch diesmal klingt ihre Stimme etwas spröde, springt zu Beginn der Ballade überhaupt nicht an. Aber Grauba kämpft sich tapfer durch die Ballade, bringt die Höhen kräftig zur Geltung mit großem Ausdruck, um dem Dirigenten zum Schluss den Klavierauszug des Werkes vor die Füße zu schmeißen, ein dramatischer Auftritt.
Wie auch schon in der ersten Musiktheatercollage liebt Wuss das Wechselspiel von Genre und Stil. Waren vor drei Wochen die Gegensätze teilweise recht krass, versucht sie an diesem Abend immer den thematischen Bezug zu halten, was ihr auch meistens gelingt. My Ship ist ein Lied, das von einem Schiff handelt, das Hoffnung bringt. Es stammt aus dem Broadway-Musical Lady in the Dark aus dem Jahre 1941 von Moss Hart. Die Musik komponierte Kurt Weill, der Gesangstext stammt von Ira Gershwin. Die Mezzosopranistin Maria Helgath interpretiert das melancholische Lied mit viel Gefühl. Dann geht es wieder zurück an den Rhein. In Wagners Götterdämmerung hält Hagen da die berühmte „Wacht am Rhein“. Für diese markige Passage hat Wuss sich einen der ganz großen Bässe dieser Zeit geangelt, den Münchner Andreas Hörl. Der Bayreuth-erprobte Sänger hatte beim letztjährigen Platzkonzert der Wiesnwirte des Münchner Oktoberfests mit einer beeindruckenden Darbietung des Liedes S’boarische Bier von Roider Jackl einen fulminanten Auftritt hingelegt. Hörl, der derzeit an der Wiener Volksoper mit der Rolle des Doktor Bartolo in Mozarts Le nozze di Figaro gastiert, bringt seinen markanten Bass mit dem Auftritt als Hagen voll zur Geltung, sein Volumen füllt den großen Saal des Museums bis an die Decke, und sein Ruf … mir aber bringt er den Ring! geht durch Mark und Bein. Ein großartiger Auftritt, Gänsehaut pur! Doch es gibt keine Möglichkeit zu applaudieren, denn die Musik schwenkt nahtlos um zu Richard Strauss und seiner Ariadne auf Naxos.
Nádia Zanotello als Ariadne sowie Charlotte Kouby, Maria Helgath und Nanami Chiba als Nymphen singen ein wunderbares Quartett, während Ariadne einen Bilderrahmen mit dem UNICEF-Foto des Jahres 2022 vor sich her trägt. Das Foto des Argentiniers Eduardo Soteras zeigt in einer zerstörten Bibliothek einer Grundschule in der äthiopischen Region Tigray, wie sich zwei Kinder in Bücher vertiefen. Das Lächeln in ihren Gesichtern verrät einen Moment des Glücks und ist ein seltener Moment umgeben von Zerstörung und Gewalt. Auch das ist Wuss wichtig, immer der Querverweis auf aktuelle weltpolitische Themen. Ein Akkordeon-Zwischenspiel mit dem Thema aus Capri-Fischer von Gerhard Winkler holt die Zuschauer wieder aus dem Zauberreich Ariadnes zurück, bevor die Wassernixe Rusalka aus der gleichnamigen Oper von Antonín Dvořák ihr Lied an den Mond Měsíčku na nebi hlubokém singt, das von Vera Senkovskaja sehr lyrisch und gefühlvoll dargebracht wird, während im Hintergrund die Solisten mit einem großen Lampion spielen.
Zurück zu Wagner und seiner Walküre. Eduard Brinkmann, der Mitarbeiter von Georg Balthasar Neumayer, träumt, er wäre Siegmund und verwandelte sich mit Sieglinde in einen Schwan. Der Tenor Stefan Hahn als Siegmund und die Sopranistin Gillian Crichton gestalten fast die komplette Schlussszene aus dem ersten Aufzug. Crichton begeistert wie schon vor drei Wochen mit lyrischen und dramatischen Passagen und einer großen Textverständlichkeit, wobei ihr bei der Sieglinden-Erzählung ein großer Spannungsbogen gelingt. Die Winterstürme werden von Hahn sehr lyrisch gesungen mit heldischen Höhen. Dass Crichton während ihrer Erzählung einen Kochtopf mit Werkzeug scheppernd zu Boden fallen lässt, gehört natürlich zu den kleinen Regieeinfällen. Nochmal zurück zur Oper Rusalka, wo die Hexe Jezibaba für Rusalka einen Zaubertrank kocht. Ariana Lucas gestaltet ihren Auftritt mit großer Geste. Von Dvořák geht es weiter zu Puccini und seiner letzten Oper Turandot. Die aus dem Mezzo-Fach stammende Sopranistin Ilona Nymoen zeigt mit einem beeindruckenden Vortrag der großen Arie In questa reggia der Turandot, welche Möglichkeiten ihre Stimme bietet. Sie beginnt mit ihrer Arie ganz oben im Saal auf der Empore und schreitet dann langsam zwischen den Zuschauern die Treppe hinab, wo unten die anderen Solisten als Volk von Peking den Chor intonieren. Wenn sie dann dem Prinzen Kalaf zuruft: Gli enigmi sono tre, la morte una! geht die Stimme ins Hochdramatische mit leuchtenden Höhen. Ein großartiger Auftritt, auch Dank der passenden Lichtregie von Benjamin Schmidt und Stefan Schaub. Die opulenten Kostüme der Protagonisten stammen wieder vom Kostümverleih Ralf Rainer Stegemann. Noch einmal zurück zu Strauss und seiner Ariadne. Mit den weisen Worten des Harlekins hilft Neumayer den verletzten Vögeln im Palastgarten, sehr schön gesungen von Moritz Kugler. Es geht weiter zur Oper Carmen von Georges Bizet. Vor drei Wochen legte Maria Helgath mit der Habanera der Carmen einen großartigen Auftritt hin. Diesen Eindruck bestätigt sie heute Abend, diesmal aber mit der Seguidilla und der Arie Près des remparts de Séville chez mon ami Lillas Pastia. Erotik in der Stimme und im Ausdruck, Helgath hat alles, was eine Carmen braucht.
Dann kommt wieder einer der Stilbrüche, der aber trotzdem zum Thema des Abends passt. Der Barde Dirk Rabe, der vor drei Wochen als Elvis Presley reüssierte, gibt den alten Schlager Die Gitarre und das Meer zum Besten. Mit diesem Lied hatte Freddy Quinn 1959 einen Nummer-eins-Hit. Die Melodie stammt von Lotar Olias, den Text schrieb Aldo von Pinelli. Anschließend erklingt die selten gespielte Oper La Reine de Saba von Charles Gounod. Charlotte Kouby sorgt mit der großen Arie der Balkis, der Königin von Saba, wieder für einen herausragenden Moment an diesem Abend. Sehr lyrisch gesungen mit ausdrucksstarken, leuchtenden Höhen. Dann tritt der junge Geiger und Komponist Nathanael Turban auf, der einen Teil seiner Sonate Ammonite spielt. Ein interessanter Vortrag mit einer etwas gewöhnungsbedürftigen atonalen Musik, die stilistisch nicht zu den harmonischen Arien des Abends passt. Noch einmal Strauss, jetzt endlich kommt die Feldmarschallin zu ihrem anrührenden Auftritt. Julia Thornton sinniert Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding, während Helgath als junger Liebhaber Octavian davon nichts wissen will. Thornton gestaltet ihren Part mit großer Grandezza, und Helgath gibt wieder mit warmem, erotischem Mezzo den stürmischen Galan. Sowohl optisch als auch stimmlich sind die beiden Sängerinnen ein wunderbares Paar.
Nach einem erneuten Akkordeon-Zwischenspiel hat Zanotello noch einen großen Auftritt als Manon Lescaut in der gleichnamigen Oper von Giacomo Puccini. Die Manon sucht in der Wüste nach Trinkwasser und gerät an die Grenze zum Märchen. Leere Wasserflaschen werden auf den Boden geworfen, der Tod ist sicher. Ihre große, letzte Arie Sola, perduta, abbandonata wird von Zanotello ergreifend gesungen, wieder so ein Gänsehautmoment an diesem Abend. Dann wird es etwas volkstümlicher, zum Schluss des Programms stehen noch Ausschnitte aus zwei großen deutschen Opern auf dem Programm, Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel und Carl Maria von Webers Freischütz. Die junge Sopranistin Chiba interpretiert mit glockenhellem Sopran zuerst den Auftritt des Sandmanns, dann des Taumanns. Zwischen den beiden Stücken gibt es die große Szene in der Wolfsschlucht. Hahn als Max lässt mit seinem heldisch angelegten Tenor erneut erahnen, was für ein gesangliches Potenzial in ihm steckt. Kugler singt den Kaspar etwas zu schön, da fehlt ihm noch das dämonische, die Schwärze in der Stimme. Helgath ist ein äußerst attraktiver Samiel, der dem Kaspar ordentlich Angst macht. Die anderen Solisten übernehmen derweil den Part der Höllenfiguren, unter denen wiederum Arianas Lucas durch wildes Spiel herausragt. Zum Abschluss liest Bruck, oder ist es doch Hans Christian Andersen, noch einmal aus seinem Buch Flaschenpost. Das musikalische Finale mit allen Solisten zusammen ist ein Schmankerl und ein treffender Abschluss eines erneut großartigen Konzertes. Soon May the Wellerman Come wird zum Besten gebracht. Es ist ein aus Neuseeland stammendes Walfängerlied und Shanty, das zwischen 1860 und 1870 entstand. Anfang 2021 wurde das Lied durch Nathan Evans bekannt, der mit seiner Version einen Nummer-eins-Hit in Deutschland landete, und die bekannte deutsche Shanty-Rock-Gruppe Santiano hat es für ihr aktuelles Album gecovert.
Nach knapp zwei Stunden ohne Pause geht erneut ein bewegender Musiktheaterabend zu Ende. Das Publikum spendet am Schluss lautstarken Applaus und jubelt zurecht den Solisten zu, die wieder so ganz unterschiedliche Facetten ihres Könnens zeigen. Henri Bonamy, der die einzelnen Stücke mit großem Engagement vom Treppenabsatz dirigiert, und erneut Thomas Jagusch für eine überragende Leistung am E-Piano verdienen sich an diesem Abend wiederum einen großen Sonderapplaus für ihre überzeugende Darbietung. Kristina Wuss ist es gelungen, nach der musikalischen Weltreise nun auch die Weltmeere der Musik zu erobern. Wem es vergönnt war, beide Konzerte zu erleben, der wird noch lange davon zehren.
Andreas H. Hölscher