O-Ton

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Die Freiheit des Willens

LE CHÂTEAU DE BARBE-BLEUE
(Béla Bartók)

Gesehen am
26. März 2021
(Premiere/Stream)

 

Opéra de Lyon

Femmes libres? – so lautet der Titel des Frühjahrsfestivals der Opéra de Lyon in diesem Jahr. Ein Fragezeichen hinter freien Frauen bringt die Gedanken in Bewegung, vor allem, wenn unter diesem Motto die Blaubart-Geschichte in zwei unterschiedlichen Opernfassungen gezeigt wird. Nachdem zwei Tage zuvor Ariane et Barbe-bleue von Paul Dukas gezeigt wurde, soll am heutigen Abend die wesentlich bekanntere Oper Herzog Blaubarts Burg von Béla Bartók ihren Weg auf die Website der Oper finden.

Denn auch dieses Festival findet online statt. Die Oper von Dukas wurde als Live-Stream gezeigt, was prompt zu Pannen führte und kaum anderes als die abgefilmte Bühne zeigte. Beim zweiten Anlauf geht es bedeutend besser. Gezeigt wird ein aufgezeichneter Stream, was zwar für den Zuschauer keinen Unterschied in der Qualität bedeutet, aber in der Übertragung wesentlich sicherer und mit weniger Aufwand verbunden ist. Außerdem hat man sich hier erheblich mehr darum gekümmert, nicht einfach eine Bühne zu zeigen. Zwar bleiben auch hier solche Szenen nicht aus, aber insgesamt wirkt die Übertragung dem Medium sehr viel angemessener, indem die Ausschnitte kleiner gefilmt werden. So einfach kann es gehen, und schon entsteht sehr viel mehr Spannung im Bild. Weil so auch die Pause entfallen kann, verkürzt sich die Übertragungszeit auf knappe zwei Stunden. Anders als Opernfans im Saal haben Zuschauer vor den heimischen Monitoren sehr viel weniger Geduld und begrüßen, wenn eine Übertragung sich nicht uferlos ausdehnt.

In dieser Beziehung hätte man diesen Abend glatt noch versüßen können, indem man auf die zweite Stunde verzichtet hätte. Bekanntlich dauert Herzog Blaubarts Burg rund eine Stunde – eine ideale Zeit für die Internetübertragung. Wunderbar. Wäre da nicht die mangelnde Entscheidungsfreude oder positiv ausgedrückt die Ideenvielfalt von Regisseur Andriy Zholdak. Der hat nämlich den glänzenden Einfall, die Oper zwei Mal hintereinander in leicht veränderten Versionen zu zeigen, miteinander verbunden, indem Projektionen der ersten Version in der zweiten gezeigt werden. Der Gewinn erschließt sich eindeutig nicht in der Inszenierung. Die muss mit dem Warnhinweis versehen werden, dass die Übertragung nicht für Zuschauer unter 16 Jahren geeignet sei, weil sie Szenen expliziter Sexualität und Gewalt enthalte. Das betrifft vor allem die erste Version und ist so überflüssig wie ein Kropf. Doch der Reihe nach.

Die Spielstätte, an deren Gestaltung Daniel Zholdak mitgewirkt hat, zeigt statt eines dunklen Burgfoyers mit sieben verschlossenen Türen einen Flur, an den sich ziemlich abgewrackte Räume anschließen. Da wird es dem Text des Librettos von Béla Balázs und der Fantasie des Zuschauers überlassen, sich Waffenkammer, Schatzkammer, Tränensee und die Ländereien des Herzogs vorzustellen. Im ersten Teil darf sich Simon Machabeli bei den Kostümen austoben. So wird die Stunde zu einer Dessous-Show. Regisseur Zholdak möchte außerdem nicht auf ein paar sexuelle Extravaganzen verzichten, die vor 50 Jahren vermutlich zu einem ausgewachsenen Opernskandal geführt hätten, die heute aber wirklich nur noch als überflüssig gelten dürfen, zumal sie nichts zur Geschichte beitragen. In der zweiten Stunde muss Machabeli sich wieder zurücknehmen und ein „herkömmliches“ Kostümbild zeigen. Damit verliert der zweite Teil zusätzlich an Reiz.

Für das Experiment, eine „unkonventionelle“ – der Begleittext auf der Website spricht von radikalen Szenen, na ja – einer eher biederen Aufführung gegenüberzustellen, hat die Oper sich gar zwei Hauptdarstellerinnen geleistet. Eine Entscheidung, die sich gelohnt hat. Und so tritt Eve-Maud Hubeaux im Negligé mit reizvoller, aber durch und durch gesitteter Unterwäsche auf, um der vierten Ehefrau Blaubarts einen hellen Mezzosopran verleiht, der in der Ängstlichkeit einen Ticken hysterischer, in ihren Forderungen deutlich offensiver klingt als der schon eher an einen Alt erinnernde Mezzosopran von Victoria Karkacheva. So wird die Judith in der zweiten Stunde tragender, dramatischer. Jede Wertung verbietet sich, denn beide Sängerinnen überzeugen in ihrer Stimmlage. Auch Karoly Szemeredy bietet einen durchaus überzeugenden Barbe-bleue, den Zholdak allerdings nur im ersten Teil als kaltblütigen Mörder darstellt. In der zweiten Hälfte gelingt es ihm, den eher Suchenden, Sehnsüchtigen, Hilflosen darzustellen. Weil Partitur und Libretto die gleichen bleiben, wirkt der zweite Teil aber dann doch eher wie eine schlechte Kopie des ersten – und man hätte sich gewünscht, der Regisseur hätte sich für eine der beiden Fassungen im Vorfeld entscheiden können.

Neben dem Gesang entschädigt vor allem Titus Engel dafür, sich die gleiche Musik zwei Mal anhören zu müssen. Er treibt das Orchester der Oper Lyon zu Höchstleistungen an. Das führt dazu, dass die Musik der Oper erhalten bleibt und nicht seicht als Filmmusik daherkommt. Für die Sänger eine zusätzliche Herausforderung, die aber alle drei eindeutig beherrschen.

Bleibt am Ende des Abends die Frage, was mit den freien Frauen ist. Und mit dem Abgang der einen Judith als Nacht und der tot auf dem Boden liegenden anderen Judith bietet Zholdak keine Lösung an. Wenn man hier nicht die Freiheit des Willens anerkennen will. Des Willens, mit dem Judith Barbe-bleue auf seine Burg folgt, und des Willens, auch das Geheimnis der siebten Tür zu klären. Beides stößt auf erhebliche Widerstände und beides geht nicht gut aus. Ist das tatsächlich die Botschaft? Dann ist sie wohl eher ein Relikt aus 1918, dem Jahr der Uraufführung. Und da haben wir uns in den letzten hundert Jahren glücklicherweise doch weiterentwickelt.

Michael S. Zerban