O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Mar Flores Flo

Aktuelle Aufführungen

Freie Frauen

ARIANE ET BARBE-BLEUE
(Paul Dukas)

Gesehen am
24. März 2021
(Premiere/Live-Stream)

 

Opéra de Lyon
Meiningen

Auch die Opéra de Lyon gestaltet ihr diesjähriges Frühlingsfestival als Online-Veranstaltung. Und natürlich muss es irgendwas mit Frauen sein. Also bekommt das Festival den Titel Femmes libres?, zu Deutsch Freie Frauen? Das Fragezeichen erschließt sich wohl am ehesten aus der Wahl der beiden Opernwerke, die Intendant Serge Dorny in diesem Jahr ausgewählt hat. Beide setzen sich mit dem Volksmärchen von Herzog Blaubart auseinander, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Aber bis es dazu kommt, sind erst einmal ein paar Schwierigkeiten zu überwinden.

Bis heute ist nicht so ganz klar, weshalb Opernhäuser und Theater glauben, ihrem Publikum mit Live-Streams einen Gefallen zu tun. Vermutlich beruht dieser Irrglaube auf dem Umstand, dass Premieren im Theater etwas Besonderes sind, und die sind ja auch live. Oder irgendwie so. Jedenfalls unterscheiden sich Live-Streams von aufgezeichneten Streams in erster Linie nicht dadurch, dass sie ein besonderes Live-Erlebnis bieten, sondern dass sie technisch weitaus anfälliger sind. Und die Opéra de Lyon verliert gleich am ersten Abend vermutlich eine ganze Reihe von Zuschauern, weil die Live-Übertragung nach wenigen Minuten abbricht und die Meldung erscheint, die Übertragung sei beendet. Was im Theatersaal für ein Raunen und geduldiges Abwarten gesorgt hätte, wird im Internet sofort mit dem Klick auf das nächste Unterhaltungsangebot bestraft, vor allem, wenn das Angebot kostenfrei ist. Bloß, weil jemand hartnäckig ist und minutenlang wartet, bis die Übertragung dann doch startet, heißt noch lange nicht, dass er auch den Schluss der Oper erlebt. Denn nach anderthalb Stunden steht die Frau, um die sich hier alles dreht, an der Spitze ihres Erfolgs, die Musik endet und die Musiker verlassen ihren Platz. Gut, das war jetzt ein bisschen einfach gestrickt, aber dafür auch nicht in die Länge gezogen, ist die Oper wohl fertig. Das Ende der Pause werden so wohl wieder etliche Menschen nicht erlebt haben. Da gibt es jetzt wohl Klärungsbedarf zwischen der Oper und ihrem Medienpartner. Den ganzen Ärger hätte man sich und dem Publikum mit einer Aufzeichnung erspart. Und man hätte den Zuschauern die nötige Konzentration ermöglicht, die vor dem heimischen Monitor ohnehin schwer aufzubauen ist.

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Mit der Übertragung überhaupt nicht auseinandergesetzt hat sich offenbar Àlex Ollé, der Regisseur. Und so wird an diesem Abend nicht etwa eine online-gerechte Aufführung gezeigt, sondern das Bühnengeschehen abgefilmt. Dabei hätte sich Ariane et Barbe-bleue von Paul Dukas aus dem Jahr 1907 bestens dafür angeboten, ein Online-Medienereignis zu gestalten. Dukas‘ einzige Oper basiert auf dem gleichnamigen Drama von Maurice Maeterlinck aus dem Jahr 1901 und legt ihren Schwerpunkt auf die dritte Tochter, die hier den Namen Ariane bekommt. Maeterlinck wird nachgesagt, dass er die Handlung unter dem Einfluss seiner willensstarken Gefährtin, der Sängerin Georgette Leblanc, seinen Lebenserfahrungen anpasste. Und so verliert sich die Auseinandersetzung zwischen Blaubart und seiner Frau, wie sie aus Herzog Blaubarts Burg von Béla Bartók bekannt ist, rasch in der Bedeutungslosigkeit. Bei Maeterlinck und Dukas dreht sich alles um das Erstarken der Frau und den Weg dahin. Am Ende geht sie als femme libre aus der Geschichte hervor.

Ollé überrascht mit solidem Regisseurshandwerk. Ein paar Spiegelfechtereien baut er ein, aber die sind kaum der Rede wert. Der Regisseur ist einer der sechs Künstlerischen Leiter der spanischen Theatergruppe La Fura dels Baus, der er seit der Barcelona-Zeit angehört. Das Kollektiv zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es sich schon früh intensiv mit den Gestaltungsmöglichkeiten im Internet auseinandergesetzt hat. In Lyon ist davon nichts zu sehen. Alfons Flores hat eine schöne Bühne gebaut, die sehr geschickt mit Tischen, Stühlen und Lampen arbeitet. Da entstehen mitunter sehr schöne allegorische Bilder, die bei einer Aufführung im Saal mit Publikum sicher gut funktioniert hätten. Bis auf einen sehr gelungenen Kniff bietet Josep Abril Janer recht konventionelle Kostüme, die sich unauffällig in das Gesamtbild einfügen. Das wird von Urs Schönebaum als typisches Theaterstück ausgeleuchtet. Auf der Bühne sind von Dukas wenige Menschen vorgesehen, also füllt Ollé mit Chor und Statisten auf.

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Eine wahre Meisterleistung zeigt Katarina Karnéus als Ariane. Eine wahre Mörderpartie für die Mezzosopranistin. Da ist das Mindeste, das sich das Schauspielerische auf ein Minimum beschränkt. Karnéus begeistert mit raschen Stimmlagenwechseln über zweieinhalb Stunden hinweg fast ununterbrochen. Da drängt sich der Vergleich zum Hochleistungssport im besten Sinne auf. Und da nimmt es kaum Wunder, dass die Rolle der blutjungen Ariane mit einer sehr erfahrenen Sängerin besetzt wird. Nahezu das Gegenteil zeigt Tomislav Lavoie als Blaubart. Sein stimmlicher Einsatz ist überschaubar, aber ebenfalls sehr gelungen. Und wenn er im letzten Akt richtig körperlich aktiv werden muss, wünschte man sich, ihn auch öfter gehört zu haben. Stimmlich gleichermaßen gefällt die Amme La Nourrice, die Anaïk Morel überzeugend darstellt. Auf gleichem Niveau bewegen sich Hélène Carpentier, Adèle Charvet, Margot Genet, Ammandine Ammirati und Caroline Michel als Mélisande, Selysette, Ygraine, Bellangère und Kommödiantin. Der Chor überzeugt mit Spielfreude und passt sich gesanglich ein.

Die zweite Meisterleistung des Abends erbringt – vermutlich mit Hilfe der Technik – das Orchester der Opéra de Lyon. Unter der musikalischen Leitung von Lothar Koenigs gelingt in dem durchkomponierten Werk eine farbenreiche, schillernde Musik, die in einer wunderbaren Balance zum Gesang ausgeführt wird.

Als Bühnenaufführung ein sehr braver, gleichwohl gelungener Abend. Für das Internet ist diese Form der Darstellung kaum noch zeitgemäß. Da sind andere Häuser bedeutend weiter. Am 26. März zeigt das Festival sein zweites großes Stück, eben Herzog Blaubarts Burg, dann in einer Inszenierung von Andriy Zholdak unter der musikalischen Leitung von Titus Engel. Um 19.30 Uhr geht es höchstwahrscheinlich los. Die Übertragung auf der Website der Opéra de Lyon kann kostenlos mitverfolgt werden.

Michael S. Zerban