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Venedig sehen und sterben lassen

VENEDIG, VENEDIG
(Kristóf Szabó)

Gesehen am
21. April 2021
(Uraufführung/Stream)

 

F. A. C. E. Ensemble, Orangerie-Theater, Köln

Heute ist ein sehr, sehr schlechter Tag für die Bundesrepublik Deutschland. Der Bundestag hat einem Gesetz zugestimmt, das hoffentlich sehr schnell wieder vom Bundesverfassungsgericht einkassiert wird. Denn schon jetzt ist abzusehen, dass mit dem neuen „Infektionsschutzgesetz“ nicht nur die Grundrechte erheblich in Gefahr geraten, sondern auch die Live-Kultur der Bühne ferngehalten werden wird. Da ist ein kleiner Trost, wenn der Tag mit einem guten Theaterstück zu Ende geht.

Am 24. Oktober vergangenen Jahres brachten Kristóf Szabó und sein F.A.C.E. Ensemble ihre letzte Uraufführung im Kölner Orangerie-Theater auf die Bühne. Die Prometheische Kultur geriet zum Erfolg – O-Ton berichtete. Und es geht weiter. Wenn auch online. Als sei das nicht genug, geht es mit dem neuen Projekt auf Reisen. Venedig, Venedig heißt das mehr als einstündige Stück, das gewohnt kryptisch angekündigt wird. Davon darf man sich ebenso wenig abschrecken lassen wie von der Tatsache, dass es solch ein Stück jetzt „nur“ online, aber damit eben für die ganze Welt erreichbar gibt.

Joy Kammin – Bildschirmfoto

Szabó nimmt den Zuschauer mit in die Lagunenstadt, in der er drei Frauenleben tänzerisch darstellt. Frauen, die nach Venedig reisen, nachdem ihnen eine Freundin mitgeteilt hat, dass Venedig im Meer verschwinden werde. Und nein, es geht jetzt nicht um Klimawandel und Umweltverschmutzung, auch wenn Szabó sich am Ende nicht die Kreuzfahrtschiffe am Horizont verkneifen kann. Vielmehr befasst der Regisseur und Choreograf sich mit der existenziellen Ausnahmesituation von grundsätzlich verschiedenen Charakteren. „Ich tanzte auf dem Dach des Hauses, in dem ich wohnte, und fühlte, wie es sich unter mir bewegte“, ist wohl einer der Schlüsselsätze des Werks. Wie erlebe ich meinen Besuch in einer Stadt, die dem Untergang geweiht ist? Und Szabó geht weiter: Wie erlebe ich den Untergang? Und was kommt danach? Dabei setzt er auf bewährte Mittel. Bühne, Tanz, Sprache, Projektionen und Installation fließen ineinander, werden eins und schwingen sich zu Größerem empor. Boshi Nawa zeichnet für die Bühne verantwortlich. Und kann erneut mit einfachsten Mitteln begeistern. Um Venedig darzustellen, hat er wieder auf Holzlatten zugegriffen, mit denen er eine Art skelettierten Umriss von Brücken, Palästen und Villen erstellt. Die stehen zunächst willkürlich im Raum und werden erst erkennbar, als sie an die Wände gerückt werden. Später werden sie schief gestellt und entwickeln damit ihre volle Wirkung. Der Fraß von Wasser, Alter und Umwelteinflüssen – also doch – lässt nicht viel mehr als Skelette, zwischen denen sich die Tänzerinnen bewegen. Im Vordergrund sind ein paar Skulpturen kaum erkennbar. Ivó Kovács hat sich erneut um die Projektionen gekümmert. Und das gelingt ihm vor allem im ersten Teil so, wie es sein soll: imposant. Später passt er sie den Häuserkonturen an. Das wirkt ein bisschen spärlich. Und wenn er zum Schluss naturalistisch wirkt, passt es zur Entwicklung des Stücks, nachdem er mit einer Inversion des Lichts für wirklichen Eindruck gesorgt hat. Nach der akustischen Überflutung der Stadt kommen die, die die Überreste begutachten, ehe es an den Strand geht.

Sara Escribano Maenza – Bildschirmfoto

So weit, so überzeugend. Geschmälert wird der künstlerische Genuss durch Kameraführung und Bildregie. Es gibt ein krasses Missverhältnis zwischen tänzerischer Bewegung und Bild. Da fliegen die Körperteile zu oft bei Nahaufnahmen aus dem Rahmen, zu oft hat man das Gefühl, als würde einem das Geschehen auf der Bühne entgehen und andersherum werden die Blenden bei Totalaufnahmen oft unscharf. Solche Bilder sind nicht mehr konkurrenzfähig.

Und sie werden den Tänzerinnen nicht gerecht. Joy Kammin, Sara Escribano Maenza und Waithera Schreyeck zeigen mehr, als auf dem Bildschirm ankommt. Ihre Bewegungssprache, gemeinsam mit Szabó entwickelt, überzeugt in Lebhaftigkeit und Kraft. Dass zu ihren Rollen anscheinend am ehesten Alltagskleidung passt, ist bedauerlich. Erst als Lenah Flaig und Boshi Nawa auftauchen, um die Schäden der Überflutung zu untersuchen, entfaltet sich auch hier die volle Fantasie. Flaig als ganz in rot gekleideter Engel, der später seine Rettungsleinen auswirft, ist so herrlich skurril und sexy, wie Boshi Nawa eher ein wenig schrill erscheint, aber nicht weniger großartig. So oder so ein großartiges Paar, das sich da um die Rettung aller kümmert.

Die Musik setzt auch in Venedig dem Stück das Sahnehäubchen auf. Umso unverständlicher, warum Peter Behle hier den Raumton anbietet, anstatt die Stücke direkt einzuspielen. Das nimmt erwartungsgemäß viel von der Klangqualität für den Hörer am Bildschirm, ohne die vielleicht erhoffte Authentizität des Spiels zu unterstreichen. Szabó hingegen hat mit seiner Musikauswahl wieder in die Vollen gegriffen. Es gelingt ihm nicht nur, ungewöhnliche Kompositionen – etwa von Dennis Smalley, Miguel Carvalhais, Wolfgang Rihm oder Giacinto Scelsi – in Ausschnitten so zusammenzufügen, dass sie die Dramaturgie entscheidend mitbestimmen, sondern auch herrliche Kontrapunkte zu setzen, wenn es darum geht, Scheinwelten der Freude zu schaffen. Da erklingen Io tra un’ora sono li von Lucio Dalla oder – sehr poetisch – Una giornata al mare von Paolo Conte. Eine gelungene Gesamtkomposition, die auch allein als Hörstück stehen könnte.

Insgesamt ist dem F. A. C. E. Ensemble wieder ein großer Wurf zwischen Skurrilität, Freude, Nachdenklichkeit, Spaß und, ja, Hoffnung gelungen. Wer sich davon selbst überzeugen will, kann das am kommenden Wochenende, 1. und 2. Mai, wobei die Streams an den Sonntagen bereits um 18 Uhr beginnen.

Michael S. Zerban