O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Julia Karl

Aktuelle Aufführungen

Göttlicher Bilderrausch

PROMETHEISCHE KULTUR
(Kristóf Szabó)

Besuch am
24. Oktober 2020
(Uraufführung)

 

F.A.C.E. Ensemble, Orangerie-Theater, Köln

Die Angst spielt derzeit überall mit. Die Angst davor, dass der Spielbetrieb von der Regierung in ihrer Panikmache wieder zum Erliegen gebracht wird. Auch Kristóf Szabó erzählt, dass er ziemlich um seine Uraufführung gebangt hat, und die Erleichterung, dass er sie heute Abend auf die Bühne bringen kann, ist ihm anzumerken. Da scheint es schon fast unerheblich, dass im Sicherheitskonzept der Orangerie am Volksgarten in Köln kaum noch 30 Gäste Platz finden. Die Gäste selbst nehmen es eher gelassen. Die allgemeinen Regeln haben sich – viel zu schnell – in den Köpfen festgesetzt. Kaum jemand, dem man erklären muss, dass er einen Anwesenheitsnachweis ausfüllen, eine Maske auch während der Vorstellung aufbehalten muss. Das Publikum ist wie in allen Theatern derart diszipliniert, dass es einen schon fast ängstigt. Ärgerlich ist die fehlende Disziplin der Spielstätten im Umgang mit der Zeit. Eine Viertel- bis eine halbe Stunde verspäteter Beginn scheint schon fast normal, obwohl es dafür keinen Grund gibt. Die Orangerie schafft es heute Abend immerhin mit einer Verspätung von nur zehn Minuten, wobei die Gäste „handverlesen“ auf die Plätze gewiesen werden. Manchmal ist es einfach zu viel des Guten. Wenn man sich vorstellt, dass derweil in den Altstädten das Ordnungsamt zwischen den Menschenmengen spazieren geht und vereinzelte Gäste darauf hinweist, dass es ja eigentlich eine Maskenpflicht gibt …

Den Regierungen gelingt es gemeinsam mit den öffentlich-rechtlichen Medien, das Virus-Thema auf Platz eins zu halten und damit alle anderen Themen zu verdrängen. Gerade deshalb ist es so wichtig, jetzt ins Theater zu gehen, um den eigenen Kopf für andere Themen frei zu halten und sich nicht völlig vereinnahmen zu lassen. So sind wir in einem Stadium angekommen, in dem Menschen tatsächlich beginnen, das biologische Geschlecht in Frage zu stellen und sich darüber erheben zu wollen. Was für die einen wie ein Irrweg der Zivilisation klingt, ist für die anderen Grund genug, eine ganze medizinische Industrie darauf aufzubauen. Wenn etwa Zehnjährige Pubertätsblocker verabreicht bekommen, weil sie sich über ihre Geschlechterrolle nicht im Klaren sind, wollen Menschen sich über die Mythen altgriechischer Götter stellen. Ob Menschen der Gegenwart damit ihre Freiheiten richtig nutzen, stellt Szabó in seinem neuesten Werk Prometheische Kultur zur Diskussion.

Prometheus wurde von Zeus dafür abgestraft, dass er den Menschen das Feuer brachte. Hephaistos hatte ihn an einen Felsen zu schmieden, an dem ein Adler von seiner Leber fraß, die sich immer wieder erneuerte. Prometheus, der Vorausdenkende, muss erkennen, dass aller Fortschrittsglaube nur dann funktioniert, wenn er von Empathie begleitet wird. Eine Bedingung, die in der heutigen Gesellschaft zunehmend unbeachtet bleibt. Aber schon Prometheus scheitert am fehlenden Einfühlungsvermögen. Szabó und sein F.A.C.E. Ensemble kombinieren nach eigenen Worten Video, Performance, Sprache, Gesang und Musik und schaffen auf diese Weise intermediale Werke. Diese Vorgehensweise, möglichst alle Genres auf einer Bühne unterzubringen, schafft eine neue Ästhetik, die allerdings immer Gefahr der Überbordung läuft. Das ist höchst eindrucksvoll, aber kaum befriedigend für den Zuschauer, wenn der sich überfordert fühlt.

Maximilian von Mühlen als Prometheus – Foto © Julia Karl

Und schon der erste Blick auf das Bühnenbild von Boshi Nawa, Maximilian von Mühlen und Kristóf Szabó ist überwältigend. Ein Triptychon beherrscht das Bild. Rechts ein Felsen aus Holzkästen und -latten. Dahinter leicht versetzt ein Kleinwagen, hinter dem Holzlatten aufragen und links ein Gestänge, das sich ebenfalls aus Holzlatten zusammensetzt. Wer darin eine innere Weltstruktur erkennen will, liegt vermutlich kaum falsch. Später wird Boshi Nawa noch einen Ausschnitt aus dem Felsen mit einem Eisengestänge aufbauen. Das ist eindrucksvoll gemacht. Ivó Kóvacs überlagert die Fläche mit eindrucksvollen Videobildern und -grafiken, die alle drei Wände und den Fußboden bedecken, was die herkömmliche Bühne in eine neue Wirklichkeit taucht, aber mitunter mit dem Licht von Jan Wiesbrock kollidiert. Da müssen die Akteure oft unnötig im Dunkel bleiben. Das wiederum lässt die fantasievollen Kostüme von Emese Kasza häufig zu wenig aufscheinen. Aber es ändert insgesamt nichts an der rauschhaften Wirkung der Bühne.

Die Darsteller fühlen sich dort sichtlich wohl. Zumindest die, die sichtbar werden. Denn Szabó teilt die Texte von Aischylos, Marinetti, Shelley und René Char sowie Zeljana Vukanac und ihm selbst zwischen den Akteuren auf der Bühne und Sprechern auf, die über die Lautsprecher zu hören sind. Damit öffnet der Regisseur eine weitere Dimension, die das Verständnis nicht immer erhöhen, aber dafür sorgen, dass alle Rollen auftauchen können. Auf der Bühne bleiben vier Darsteller. Maximilian von Mühlen obliegt der Prometheus, den er mit reichlich Text nahezu fehlerfrei, nicht immer ganz verständlich, aber sehr überzeugend spricht und weitaus überzeugender spielt. Trotzdem hinterlässt den größten Eindruck an diesem Abend wohl Natalia Voskoboynikova. Die ausgebildete Opernsängerin arbeitet sich bewundernswert an Gesang, Tanz und Text in verschiedenen Rollen ab. Ihre, ja, Wollust, sich in die einzelnen Charaktere zu begeben, hält die Spannung bis zum schlussendlichen Gebet aufrecht. Als Hephaistos und Mensch arbeitet Boshi Nawa sehr diszipliniert und akkurat, während La Caminante ihren Nacktauftritt mit Integral-Helm sehr würdevoll zelebriert.

In der Abmischung der Musik, die von der Festplatte kommt, beweist Szabó nicht nur Geschmack, sondern vor allem ein wunderbares Feingefühl für die jeweiligen Stimmungen. Von Robert Schumann über Steve Reich, Joji Yuasa, Carl Orff, Can, Sting bis hin zu József Iszlai reichen die Einspielungen, die den Abend noch einmal bereichern.

Szabó wollte ein Stück über den „gefährlichen Umgang des homo technicus mit digitaler Technik und analogem Schmerz – über Propheten, Heilsbringer, falsche Ideen und Sehnsüchte nach einer besseren Welt ohne Leid“. Das ist ihm und seinem Team in jeder Faser gelungen, auch wenn er den Zuschauer hier und da mit seiner überbordenden Fantasie schlicht überfordert. Das Publikum ist damit mehr als einverstanden und bedankt sich mit einem Applaus, der die Lautstärke und Intensität von 30 Menschen bei Weitem überschreitet.

Da können die nächsten sechs Vorstellungen kommen; in der nächsten Woche geht es los. Und nachdem die Oberbürgermeisterin sich für die Theatervorstellungen einsetzen will, stehen die Chancen gut, dass sich noch eine ganze Menge Menschen auf diese überwältigende Prometheus-Interpretation einlassen können.

Michael S. Zerban