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VENEDIG UND DER TOD
(Kristóf Szabó)
Besuch am
24. November 2022
(Uraufführung)
Vor gut anderthalb Jahren, am 21. April 2021, gab es im Internet die Uraufführung eines Tanztheaterstücks zu sehen. Das F.A.C.E. Ensemble präsentierte den Stream Venedig, Venedig. Ursprünglich war das Stück für eine Bühnenaufführung im Kölner Orangerie-Theater geplant. Diese Idee ließ Kristóf Szabó, künstlerischer Leiter des Ensembles, auch nach der Internetpräsentation nicht fallen. Im Gegenteil. Mit seinem Team arbeitete er weiter an dem Stück und entwickelte es, so dass er heute stolz die Uraufführung von Venedig und der Tod verkünden kann.
Wie es sich für eine gute Geschichte gehört, ist sie recht simpel. Eine nicht näher bestimmte Frauengruppe hält sich in Venedig auf, wird vom Hochwasser überrascht. Die drei können gerettet werden, aber niemand hat etwas dazugelernt. Was Szabó daraus allerdings generiert, erreicht psychedelische Ausmaße. Vorerst beginnt alles mit altbewährten Mitteln. Boshi Nawa, der später noch in Erscheinung treten wird, hat den Bühnenbau besorgt. An den drei Wänden sind Holzrahmen aufgestellt, die an skelettierte Villen erinnern. Überall im Raum sind Requisiten verteilt, die nach und nach zum Einsatz kommen. Ivó Kovács ist auch dieses Mal wieder für die Videoprojektionen zuständig. Harmlos beginnt er damit, den Guckkasten in geometrische Formen zu tauchen. Zwei Tänzerinnen stehen in der Mitte der Bühne, eine dritte sitzt mit dem Rücken zum Publikum am vorderen Rand. Die Musik hämmert rhythmisch.
Foto © Oliver Stroemer
Während Waithera Schreyeck und Karolina Tóth, die beiden ganz in schwarz gekleideten Tänzerinnen in der Bühnenmitte, ihr Duo beginnen, übernimmt Kovács die Erzählung. Die geometrischen Formen weichen idyllischen Bildern von Venedigs Ufern. Lili Oksanen kommt in rotem Pullover und schwarzer Hose hinzu. Szabó erzählt von der Farbgebung, die sich von schwarz allmählich zu rot verfärbt, um die Gefahrenlage zu dramatisieren. Das bekommst du als Zuschauer nur unterschwellig mit. Allmählich brechen die Wasserfluten über die Bühne herein. Endlich finden sich die Tänzerinnen, die sich in die Umrisse der Villen zurückgezogen haben, in einer Welt von Tang oder Korallen wieder. Lenah Flaig, in ein Trikot mit Gaze-Maske gekleidet, an deren Hüften Knäuel angebracht sind, und Boshi Nawa in einem eher komischen Anzug betreten die Bühne mit einem fahrbaren Spiegel, um die Rettungsaktion einzuleiten. Mit Lampen werden die Schäden untersucht, der Spiegel dient der Inspektion der Atemfähigkeit, die Knäuel werden wie Sauerstoffleitungen ausgeworfen.
Allmählich kehren die Bilder der alten Stadtansicht zurück. Tatsächlich beginnt die eigentliche Dystopie erst jetzt. Die Choreografie Szabós allein ergäbe schon einen veritablen Tanzabend, geht allerdings in den visuellen Gesamteindrücken mehr und mehr unter, bis sie nahezu zum Stillstand kommt. Das alte Leben kehrt nach Venedig zurück. Kreuzfahrtschiffe tauchen flächendeckend an allen drei Wänden auf. Es ist alles wie vorher. Oder fast alles. Der Tanz auf den Dächern wird schwieriger, weil die Dächer sich bewegen. Interessiert aber keinen wirklich. Szabó sieht darin eine höhere Ebene als den Klimawandel. Dass die Menschen generell nicht mehr in der Lage zu sein scheinen, ob all ihrer Interessen drohende Gefahren zu sehen, sie allenfalls als komische Erscheinungen werten, bereitet ihm Sorge und treibt ihn zu dem Stück an, während Farbstreifen durch den Raum wabern und an einen LSD-Trip erinnern.
Foto © Oliver Stroemer
Ein hübscher Einfall verleiht dem Abend zusätzlichen Glanz. Jószef Iszlai gibt eine kleine Konzert-Einlage. Konzert für fünf Infusionen und E-Gitarre könnte der Titel lauten. Dazu werden fünf Stative mit Infusionsflaschen hereingetragen und an der Rampe aufgebaut. Darunter stellt Iszlai verschiedene Gegenstände wie Helme, Eimer und Becher auf, auf die er das Wasser aus den Infusionsflaschen träufeln lässt, nachdem er hochempfindliche Mikrofone an den unterschiedlichen Gegenständen angebracht hat. Am Mischpult entsteht in Kombination mit der E-Gitarre eine hochintensive Musikeinlage, die alles andere in den Hintergrund treten lässt.
„Das ist das Verrückteste, was Du je gemacht hast“, sagt Szabós Ehefrau ihm, nachdem das Publikum aus einem Farb- und visuellen Rausch wieder auftaucht, um das Ensemble begeistert zu feiern. Das mag sein. Aber vielleicht ist es auch das Konkreteste. Inzwischen nehmen die Hochwasser in Venedig zu, die Stadt plant riesige Projekte wie Schutzmauern, versucht, die Kreuzfahrtschiffe aus den Häfen zu verbannen. Immerhin wird hier nicht danach gefragt, was der Einzelne gegen den Klimawandel tun kann, sondern was die Gemeinschaft tun muss. Denn die eine Person kann immer nur feststellen, dass die Dächer bereits wackeln, auf denen sie tanzt.
Drei weitere Aufführungen stehen jetzt am Wochenende an.
Michael S. Zerban