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TWO FOR THE SHOW
(Richard Siegal)
Gesehen am
24. April 2021
(Uraufführung/Live-Stream)
Im vergangenen November hatte die Compagnie Ballet of Difference unter der Leitung ihres Choreografen Richard Siegal entschieden, den Fokus der künftigen Arbeit auf das Internet zu legen. Eine erste Kostprobe lieferten die Tänzer am Ende des Monats mit All for one and one for the money. Damals entstand so etwas wie ein Grundmuster, eine Ideensammlung, die schon recht beeindruckend war und entdecken ließ, wie unterschiedlich sich Arbeit für die Bühne und das Internet gestalten. Siegal und sein Team haben nicht lockergelassen und ihre Ideen weiterentwickelt.
Jetzt präsentieren sie das Ergebnis mit der Uraufführung von Two for the show – All for one and one for the money (Extended Choreographer’s Cut). Um es vorwegzunehmen: Die größte Leistung der Compagnie besteht sicher darin, sich weiterhin um eine Umsetzung des zeitgenössischen Tanzes im Internet zu bemühen. Sie liefert damit eine großartige Diskussionsgrundlage, weil sie sich extrem weit vorgewagt hat. Ein Pflichtabend für jede Compagnie, die auch nur im Entferntesten daran denkt, sich im Internet zu präsentieren. Ein Pflichtabend auch für das Publikum, um sich Gedanken darüber zu machen, wie es zeitgenössischen Tanz demnächst im weltweiten Netz erleben will.
Dabei geht der Einstieg alles andere als freundlich mit den Deutschen um, von denen die Mehrheit nachweislich immer noch nicht weiß, was an dem Werbespruch einer Parfümerie-Kette in Deutschland falsch sein könnte: Come in and find out. An diesem Abend fällt ein einziges deutsches Wort, das Deutsche allerdings nicht verstehen. Mit der größten Selbstverständlichkeit findet der Abend auf Englisch statt, der vom Schauspiel Köln veranstaltet wird. Für Geografie-Feinde: Köln liegt nicht in der Nähe von London oder Cambridge. Einmal mehr ein Hinweis darauf, dass hier Künstler in einer Blase leben und die Behauptung gegenüber dem Publikum „Ihr fehlt uns“ besser nicht mehr aufgestellt werden sollte.
Aber die Künstler haben auch gelernt. Und so wird jetzt ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Monitor, auf dem man diesen Abend verfolgt, möglichst groß sein sollte und ein Smartphone diese Forderung nicht erfüllt. Denn die Compagnie hat für ihr Vorhaben eigens eine eigene Website erstellen lassen, weil sie in ihren Überlegungen die Möglichkeiten von YouTube oder Vimeo längst verlassen hat. Schriftbild und Aufmachung erinnern eher an das Netz der 1990-er Jahre. Aber hinter der Schlichtheit verbirgt sich ein Hochleistungsmotor. Denn auf der Seite finden zeitgleich fünf Streams statt. Das ist aus technischer Sicht mindestens ebenso eindrucksvoll wie das Wissen, dass sich die Künstler „raufgeschafft“ haben, um das Projekt zu stemmen. Die Website bietet in der oberen Zeile ein Menü an. Rechts gibt es einen Chat. In der Mitte ein größeres Bild, das den jeweils ausgewählten Stream anzeigt. Darunter die beiden anderen ständig mitlaufenden Streams. Zusätzlich gibt es spezielle Streams, die kostenpflichtig dazugebucht werden müssen. Und noch ehe die Veranstaltung richtig begonnen hat, kommt die berechtigte Frage im Chat: „Wie bekomme ich den Chat weg, und wie werden die beiden Streams unten ausgeblendet?“ Den Chat kann man ausblenden, die beiden anderen Streams nicht.
Bildschirmfoto
Im ersten Teil des Abends präsentiert die Compagnie einen hochenergetischen Spitzentanz in fremdartigen Kostümen in einem spannenden Licht, das wechselnd durch ringförmig angeordnete Stablichter ausgestrahlt wird. Etwa 25 Minuten dauert das faszinierende Spektakel, zu dem Lorenzo Bianchi Hoesch seine Musik beisteuert. Das Publikum, wie man dem Chat entnehmen kann, überschlägt sich vor Begeisterung. Und das, obwohl sich spätestens jetzt der Dreifach-Stream als Falle erweist. Drei Streams von drei feststehenden Kameras haben nicht dieselben Möglichkeiten wie Handkameras. So bleiben die Tänzer weit entfernt, tatsächlich kaum sichtbar, und das ist bei der gezeigten Leistung der Tänzer eine Schande. Hinzukommt, dass ein Wechsel des Streams zunächst eine Unschärfe bewirkt, die sekundenlang anhält. Nachdem also hier Möglichkeiten verschenkt worden sind, geht es in den zweiten Teil des Abends, der zahlreiche Fragen hervorruft.
Denn Siegal kombiniert hier den „Tanzstream“, also möglicherweise den Hauptstream, mit zwei Streams, in denen zeitgleich Video-Games gezeigt werden. Der Zuschauer hat mithin die Wahl zwischen drei Streams. Es mag durchaus sein, dass hier ein Zukunftsmodell einer Abendshow im Internet gezeigt wird. Dass Konzentration auf ein Ereignis nicht mehr zeitgemäß ist. Weil ein Jugendlicher gar nicht mehr die Kraft hat, sich auf ein Ereignis zu konzentrieren. Und der Unterhaltungscharakter gewinnt. Ist das tatsächlich so? Zieht man den Chat als Beurteilungskriterium heran, ist das Ergebnis beängstigend. Da wird – während im Hauptstream stärkste tänzerische Leistungen im Umfeld aufregender Projektionen gezeigt werden – eine Diskussion darüber geführt, welche Bedeutung Videospiele haben. Das hat Siegal provoziert. Wirklich? Oder trägt er einer Wirklichkeit Rechnung, die längst stattfindet? Die Zukunft wird es zeigen. Beruhigend immerhin, dass es zum Schluss Applaus für die Tänzer hagelt.
Michael S. Zerban