O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Oliver Look

Aktuelle Aufführungen

Religiöser Einschlag

PULSE
(Özlem Alkış)

Besuch am
4. Dezember 2022
(Uraufführung)

 

Alte Feuerwache, Köln

Der Begriff des Alevitentums ist noch relativ jung. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurden darunter verschiedene religiöse Gruppierungen zusammengefasst. Stark vereinfacht könnte man vielleicht sagen, dass das Alevitentum aus dem Sufismus herrührt. Hier sei das Stichwort der tanzenden Derwische genannt. Rund 15 Prozent der türkischen Bevölkerung sind Aleviten, weltweit sind es wohl rund 20 Millionen Anhänger dieser Glaubensrichtung, die sich auf eher mythische als weltliche Dinge in ihrem Glauben berufen. Da ist der Koran kein Gesetz-, sondern ein Glaubensbuch. Damit erheben die Aleviten auch keinen Machtanspruch. Vielmehr ist ihr Ziel Erleuchtung oder Vollkommenheit des einzelnen Menschen. Im Gegensatz zur christlichen Kirche, die einen Alleinanspruch vertritt, der von ihren Anhängern Demut und Unterwürfigkeit vor einer Dreieinigkeit verlangt. So glauben die Aleviten daran, dass Werte wie Nächstenliebe, Geduld und Bescheidenheit zur Vervollkommnung des Menschen führen. Gotteshäuser der Aleviten sind die Cem-Häuser, in denen Frauen und Männer gemeinsam den Gottesdienst abhalten, indem sie Geschlecht, sozialen Status und Konflikte ablegen und sich darin üben „zu sein“.

Welch ein Widerspruch zum Abendzettel oder der Netzseite von Özlem Alkış, die der Ideologie des Genderns anhängt, also versucht, Geschlechter gleich welcher Art in verschiedene Lager zu spalten, indem sie die Regeln der deutschen Sprache missachtet und irgendwelche Sternchen setzt, die die Geschlechtergruppen auseinanderdividieren. Ob die Choreografin sich dessen bewusst ist oder einfach nur auf falsche Berater vertraut, sei dahingestellt. Der Glaubwürdigkeit des Abends hilft es jedenfalls nicht.

Pulse hat Alkış ihre Choreografie überschrieben, die sie heute in einer neuen, überarbeiteten Form vorstellen will. Bereits Mitte Februar gab es eine erste Aufführung an derselben Stelle, nämlich der Halle der Alten Feuerwache in Köln. Jetzt präsentiert die Choreografin eine neue Version, konzentrierter und damit intensiver.

Christoph Speit und Benze C. Werner – Foto © Oliver Look

Am Kopfende hat die Technik Platz gefunden. Gleich daneben sind Tische und Stühle aufgestellt, um Jacken, Mäntel und Taschen abzulegen, die nicht mit zum Platz genommen werden dürfen, um die Unfallgefahr zu senken. Kurze Zeit später wird man sich nicht einmal mehr trauen, die Füße unter dem Stuhl hervorzuziehen. Die Halle ist gefüllt mit ellipsenförmig angeordneten Stuhlreihen, in denen versetzt Lücken gelassen sind. Kaum ein Stuhl bleibt frei an diesem Abend. Das Licht wird um die Hälfte reduziert. Das ist dann auch alles, was mit dem Licht geschieht. Unauffällig betreten die Tänzer die Halle. Unter ihnen Elsa Artmann, die im August mit ihrer Compagnie Artmann & Duvoisin noch Premiere mit dem Stück A Voice of a Generation in der Tanzfaktur feierte. Auch Philine Herrlein dürfte mindestens Kölner Tanzfreunden ein Begriff sein. Benze C. Werner und Christoph Speit ergänzen das Team.

Ihre Aufgabe: „Die wechselseitige Beziehung zwischen Blutkreislauf und Rhythmus, alevitischen Ritualen und Konzepten somatischer Praktiken“ zu visualisieren. Dazu schreiten sich die Tänzer in absoluter Stille dicht an den Zuschauerreihen entlang, verweilen sekundenlang an scheinbar unbestimmten Positionen, um sich dort schlangenförmig zu bewegen. Nach etwa zehn Minuten werden Klänge oder Geräusche von Moritz Wesp eingespielt, um gleich wieder zu verebben. Diese Fragmente werden nun immer wieder vereinzelt erklingen, ehe sich zum Finale eine Klangkulisse entwickelt. Währenddessen beschleunigen sich die Bewegungen der Tänzer sporadisch, um vorübergehend zu einer Gruppe zusammenzufinden, die gleich wieder auseinanderfällt. Berührungen finden bei aller möglicher Annäherung weder zwischen den Tänzern noch beim Publikum statt. Den größten Energieaufwand betreiben die vier zum Ende hin, wenn sie sich auf die Mitte der Halle konzentrieren, um dort Bewegungsabläufe zu zeigen, die an die typischen Drehbewegungen der tanzenden Derwische erinnern. Nach rund 50 Minuten schließt der Ausflug ins Alevitentum.

Die Besucher sind begeistert, bedanken sich mit herzlichem Applaus, wenngleich auch etwas irritiert, weil sich das Leitungsteam nicht zeigt. Dass sich der Puls angesichts der tänzerischen Leistung an der einen oder anderen Stelle beschleunigt hat, ist vielleicht weniger wichtig als der Impuls, den der Abend auslöst. Es ist die Lust, sich mit alten Religionen zu befassen.

Michael S. Zerban