O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Szene aus A Voice of a Generation - Foto © Arne Schmitt

Aktuelle Aufführungen

Grenzen verschwimmen

VOTARY/A VOICE OF A GENERATION
(Gustavo Gomes, Elsa Artmann, Simon Duvoisin)

Besuch am
26. August 2022
(Premiere)

 

Tanzfaktur, Werkshalle und Bühnensaal, Köln

Das ist bei den derzeitigen Spritpreisen gerade für auswärtige Besucher eine wunderbare Idee. Zur Spielzeiteröffnung lädt die Tanzfaktur im Kölner Stadtteil Deutz zu einem Doppelabend ein. Da nimmt man am Freitagabend auch gern einen Beginn schon um 18 Uhr in Kauf. Bereits am Vorabend fand die erste Aufführung von Votary Vol. 1 – der Verehrer – der Compagnie Gustavo Gomes & Co. statt, die heute Abend wiederholt wird. Anschließend ist das neue Stück A Voice of a Generation – eine Stimme einer Generation – von Artmann & Duvoisin vorgesehen. Betrachtet man beide auf Gemeinsamkeiten, kann man möglicherweise einen Trend für die neue Spielzeit ableiten. Die Genre-Grenzen verschwimmen zunehmend, wobei der Tanz nicht einmal mehr die dominante Rolle übernimmt. Man wird sehen, ob sich die Entwicklung auch in anderen Compagnien der so genannten Freien Szene durchsetzen wird.

Eine andere Entwicklung hat längst begonnen und setzt sich wohl auch weiter fort. Die Ankündigungstexte der Compagnien werden immer verquaster. Das mag für die Bewilligung von Förderanträgen förderlich sein, in Verbindung mit der Missachtung geltender Rechtschreibregeln dürften sie kaum das geeignete Mittel sein, Publikum anzuziehen. Das gilt auch und insbesondere für das erste Stück des Abends. Umso erfreulicher, dass bei der zweiten Aufführung viele Menschen erscheinen, die sich auch nicht daran stoßen, dass in den Bühnenräumen der Tanzfaktur weiterhin Maskenzwang herrscht.

Szene aus Votary – Foto © Sonja Werner

Die Bühne ist leer, wird von einem reflektierenden Vorhang im Hintergrund abgeschlossen, den Pavel Chernyak vortrefflich für seine Lichtspiele nutzt, wenn sie denn sichtbar werden. In den ersten zehn Minuten sind lediglich Schemen zu erkennen. Mit einem Knalleffekt setzt die Musik von Ashley Wright ein. Warum die für das Ohr unangenehme Überraschung notwendig ist, erschließt sich nicht. Später wird Ulysse Zangs als einer der Tänzer mit der Gitarre zeigen, dass die sanft vorgetragene Musik viel wirkungsvoller ist. Bis dahin hat sich eine Gruppe von vier Tänzern gefunden, einen wieder ausgeschlossen, der als Prophet zurückkehrt. Das Ganze wird kombiniert mit dem Auftritt von erst einem, dann zwei Influencern, die für Lippenstift werben. Michael Ostenrath und Anna Süheyla Harms übernehmen die Aufgabe, während Emanuela Vurro mit Soli glänzt. Texte erklingen ausschließlich auf Englisch. Warum? Immerhin gibt es im Laufe des Abends zunehmend mehr Licht, das die fantasievollen Kostüme von Lucie Hedderich letztlich zur Geltung bringt. Am Ende der Aufführung hat man viele Wiederholungen von Tanzschritten gesehen, eine mitunter bezaubernde Atmosphäre erlebt und weiß immer noch nicht recht, was Gomes eigentlich wollte. Dem Publikum gefällt es.

Die Infantilisierung der Gesellschaft dringt auch bis ins Theater vor. Der Glaube, in jedem Bühnenstück etwas Witziges finden zu müssen, ist ein Irrglaube, der verstärkt um sich greift. Merke: Wenn du in einem vollbesetzten Theatersaal der einzige bist, der lauthals und permanent lacht, liegt das nicht daran, dass du der einzige bist, der den Witz verstanden hat, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach verhältst du dich gerade vollkommen inadäquat und störst die anderen Besucher. Das darf man lang und eindringlich erleben, als das Tanzfaktur-Team endlich den Ansturm der Besucher und mit 20 Minuten Verspätung den Einlass zum neuen Stück von Artmann & Duvoisin bewältigt hat.

Szene aus Votary – Foto © Sonja Werner

Wir befinden uns offenbar in einem leeren Fitness-Raum. Weiter hinten ist ein Synthesizer aufgebaut, an dem Annie Bloch Platz nehmen wird, um mit ihrer eigenen Musik das Geschehen zu untermalen. Vorn stehen Wasserflaschen. Weiße Lichtkästen grenzen das Areal ab. Die Szene ist in grelles Licht getaucht. Eine Gruppe von Selbstoptimierern bekommt dort eine Bühne, um in Übungen und Sprüchen die Eigenmotivation voranzutreiben. Wie wohl in vielen Unternehmen, die sich für „hip“ halten, ist die Sprache ein Gemisch aus Englisch und Deutsch. Diana Treder, Ophelia Young, Anne-Lene Nöldner, Elsa Artmann und Samuel Duvoisin dreschen Worthülsen einer Generation, die geistige Werte längst gegen einen wahnhaften Körperkult eingetauscht zu haben scheint, dem als gedankliches Gerüst eine spaßentfremdete Moral ausreichen muss. Mehr und mehr werden die Anleitungen, wie man mit Versagen und Rückschlägen umgeht, zu Durchhalteparolen, während die „Übungen“ immer häufiger in sinnlose, dafür aber übersteigerte Bewegungsabläufe abgleiten. Dass hier durchaus Situationen überspitzt werden, wie etwa der Versuch der Flüssigkeitsaufnahme, der konsequent scheitert, und durchaus zum Schmunzeln sind, beflügelt den Abend. Das Lachen allerdings bleibt einem bei dieser Bestandsaufnahme eher im Halse stecken.

Was bei beiden Stücken gefällt, ist die Zwanglosigkeit, mit der Tanz, Musik und Text zusammenfinden. Da scheinen Grenzen wirklich durchlässig zu werden und damit neue Räume Platz zu finden. Donnernder Applaus beendet den Abend im Bühnensaal, in dem Artmann & Duvoisin Nachdenkliches bemerkenswert unterhaltsam auf die Bühne gebracht haben.

Michael S. Zerban