O-Ton

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Foto © Herand Müller-Scholtes

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Zurück ins Leben

FRACTURA
(Wehr51)

Besuch am
3. Juli 2020
(Uraufführung)

 

Orangerie, Köln

Das Wetter in der vergangenen Woche war durchwachsen, bis hin zu kleineren Unwettern in der Rheinbucht. Aber heute ist es zumindest warm und trocken. Dem Wetter kommt in diesen Tagen größere Bedeutung im Zusammenhang mit Theateraufführungen zu, als man denkt. Im Orangerie-Theater in Köln beispielsweise gibt es ein großes Aufatmen. Man braucht die Besucher vor der Aufführung nicht in einem Raum unterzubringen, kann die Kasse und sogar Getränke unter einem Zeltdach unterbringen und hat so einen unkomplizierten Zugang zur Toilette. Ja, das sind die Dinge, um die sich Theaterleute jetzt zuvörderst denken müssen, ehe sie sich der Kunst widmen können. Und so ist in der Orangerie alles vorbildlich eingerichtet.

Die Gäste verhalten sich vorbildlich. Bis sie im Garten sitzen. Vier Monate sind eine verdammt lange Zeit. Da kann man einfach nicht jede Umarmung unterdrücken. Und es gibt so viele Dinge zu erzählen, die nicht jeder mithören muss. Also sitzen die Gruppen dicht beieinander. Das ist in Ordnung und erinnert eher an eine gemütliche Garten-Party. Niemand drängt auf den Beginn der Veranstaltung. Die Organisatoren haben das genauso unterschätzt wie die Dauer des Einlasses. Und so ist im Nullkommanichts eine Verspätung von 20 Minuten eingefahren. Aber die Besucher interessiert das ohnehin nicht. Gelassen begeben sie sich schwatzend zum Eingang, als endlich ihre Nummern aufgerufen werden. Streifen sich die Masken über Mund und Nase, um zu ihren Plätzen zu gelangen und sie dort wieder abzulegen.

Foto © Herand Müller-Scholtes

Eigentlich hätte dieser Abend am 19. März stattfinden sollen. Als der Shutdown kam, beschlossen Andrea Bleikamp und Rosi Ulrich vom Theaterkollektiv Wehr51, zwei Tage später einen Livestream aus den Probenräumen zu zeigen (O-Ton berichtete). Im Nachhinein muss man wohl froh sein, dass der ursprüngliche Uraufführungstermin platzte. Denn schon bevor die Übertragung im Internet gezeigt wurde, betonte Ulrich, dass es sich hier nicht um die endgültige Fassung handelte. In der Zwischenzeit wurde noch kräftig am Stück gehobelt. So kommt Fractura jetzt deutlich glatter, eindeutiger und eindringlicher daher.

Dabei wurde die Grundidee des Gesamtkunstwerks nicht verlassen. Katarina Caspersens Lichtmalereien wirken klarer strukturiert und fügen sich besser mit den Projektionen von Landschaften und Knochenbrüchen zusammen. Claus Stump durfte seine Bühne noch einmal aufräumen, und so werden die blauen Müllsäcke mit schwarzen Köpfen als Menschen-Arrangement auf der linken Bühnenseite klarer und in ihrer Anonymität bedrohlicher. Die Gartenhütte in der Bühnenmitte hat etwas an Bedeutung verloren, was dem Stück gut bekommt. Nicht zuletzt hat Paula Noller die Kostümierung der Tänzerin etwas zurückgenommen und ihr so mehr Zeit zum Tanz verschafft.

Bibiana Jiménez kann sich jetzt deutlich stärker auf ihren Ausdruck konzentrieren. Und das genießt sie sichtlich. Ihre Hingabe an die Geschichte ist eindrucksvoll. Rückhaltlos wirft sie sich in eine ungewöhnliche Bewegungssprache bis hin zu Spitzentanz-Einlagen, setzt sich überzeugend mit Gehhilfen auseinander und verkörpert glaubhaft die Geschichte von den Lebensbrüchen, die von den fünf Sprecherinnen erzählt wird. Das ist schlicht grandios. Da möchte man sich mit den 55 Minuten, die das Stück dauert, eigentlich nicht zufriedengeben. Trotzdem applaudiert das Publikum, das auf 40 Besucher reduziert ist, lautstark und nachhaltig dem gesamten Team, aber insbesondere einer Tänzerin, die mit ihrer Ausstrahlung den Abend zu einem unvergesslichen Ereignis macht.

Wehr51 ist zurück im Leben. Und hat gleich einen weiteren Erfolg abgeliefert. Da darf anschließend im Garten mit Sekt und vermutlich Abstand gefeiert werden. Das sollte anderen Theatermachern Mut machen, den Sommer gewinnbringend zu gestalten. Fractura ist in vier weiteren Aufführungen am 4., 9., 10. und 11. Juli zu erleben, eine Wiederaufnahme ist Ende November vorgesehen.

Michael S. Zerban