O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Claus Stump

Aktuelle Aufführungen

Gebrechlichkeit des Lebens

FRACTURA
(Bibiana Jiménez)

Besuch am
21. März 2020
(Uraufführung)

 

Freihandelszone, Köln

Eigentlich sollte zwei Tage zuvor die Uraufführung in der Kölner Orangerie stattfinden. Daraus wurde nichts. Davon ließen sich Rosi Ulrich und Andrea Bleikamp von Wehr 51 nicht sonderlich beeindrucken. Das Tanz-Solo Fractura von und mit der Choreografin und Tänzerin Bibiana Jiménez wurde nicht etwa auf Eis gelegt, sondern in die Probenräume der Freihandelszone in Köln verlegt. Die Aufführung wird zwei Tage später als Livestream übertragen. Kurz vor der Aufführung relativiert Ulrich ihre eigene Courage. Zwar werde das Stück vollständig übertragen, sei aber noch nicht ganz ausgereift und von den technisch schlechteren Möglichkeiten der Proberäume abhängig. Die Vorbehalte werden nach der Ausstrahlung eher nach Lampenfieber als nach tatsächlichen Gegebenheiten klingen.

Ausgestrahlt wird die Uraufführung auf der Plattform Dringeblieben, einer Website, die seit dem Veranstaltungsverbot in Köln Livestreams anbietet. Spendenmöglichkeit inklusive. Ein bisschen hakelig, bis man zum Stream gefunden hat, aber dann läuft alles reibungslos.

Fractura als Tanz-Solo zu bezeichnen, greift ein wenig zu kurz. Eher ist das 50-minütige Stück ein Gesamtkunstwerk, in dem auch ein Tanz-Solo vorkommt. Und so sieht Ulrich das Werk auch eher als Gemeinschaftsarbeit. Konzept und Regie stammen von Andrea Bleikamp, der Text von Rosi Ulrich und Tanz wie Choreografie von Bibiana Jiménez. Dargestellt wird vordergründig eine Künstler-, genauer eine Tänzerinnen-Biografie in Wort, Musik, Tanz, Zeichnung und Projektion. Das klingt komplex und ist es auch.

Foto © Claus Stump

Claus Stump hat die Bühne eingerichtet. Es könnte ein Hinterhof sein, auf dem in der Mitte des Hintergrunds ein Gartenhäuschen steht, wie man es preiswert beim Discounter bekommt, um Gartenmöbel und -geräte unterzubringen. Rechts davon eine Projektionsfläche, links Müllsäcke, die zu plumpen Figuren geformt sind. Davor freie Fläche, auf der die Tänzerin sich ausleben kann. Eine besondere Rolle kommt dem Licht von Jan Wiesbrock und Peter Behle zu. Ihre Lichtquellen sind die Live-Zeichnungen von Katharina Caspersen, die sie in leuchtenden Spuren hinterlässt, die Projektionen von Jens Standke, die Röntgenbilder, verlassene Straßen, das Meer und allerlei mehr stimmungsvolle Bilder zeigen und die Beleuchtung im Gartenhaus. Ein paar Scheinwerfer versorgen die Tänzerin mit mehr oder minder deutlicher Helligkeit. Die Musik kommt von Klangwart, von dumpfen Orgelklängen über Ballettmusik bis zum Tango nuevo reicht sie, arrangiert hat sie Sara Blasco Gutiérrez. Für die eingeblendeten Lautsprecherstimmen haben gleich fünf Sprecherinnen ihrer Stimme Ausdruck verliehen und bilden so beinahe einen klassischen Chor.

Während Jiménez in weißem Unterhemd und rotem Schlüpfer aus dem Häuschen herauskriecht, tänzerisch Orientierung sucht, setzen die Stimmen ein, wechseln sich mit der Musik ab, berichten Biografisches. In die Geschichte mischen sich immer häufiger körperliche, später auch seelische Verletzungen. Körperliche, die sich aus dem harten Tänzertraining ergeben, während Jiménez sich im ungelenk gemeinten Spitzentanz zeigt, der den Übungsbedarf andeutet, aber auch die Fragilität des Körpers unterstreicht. Seelische Verletzungen zeigen sich in körperlichen Übergriffen und abgebrochenen Schwangerschaften. Richtig Zusammenhängendes begreift man in der Kürze der Zeit nicht, aber was zum Hirn durchdringt, reicht, das destruktiv verlaufende Leben zu verstehen, das zunehmend weniger von der Seele ausgehalten wird. Und während die Tänzerin zu immer mehr Krücken greift, um ihre Karriere – und ihr Leben – aufrechtzuerhalten, kriecht das Unwohlsein in den Zuschauer, der vielleicht nicht so viel von den Entbehrungen des Künstlerlebens weiß, aber die eigenen Verletzungen wieder spürt, die man mit zunehmendem Alter eigentlich lieber verdrängt. Die Wunden auf der Seele beginnen zu brennen, während man dem Verfall der alternden Tänzerin zuschaut, die schließlich aus dem Bühnenbild verschwindet. Geschunden und verbraucht.

Der innovative Umgang mit Licht fasziniert, aber zunehmend nimmt das Zusammenspiel des künstlerisch perseverierenden Textes, der musikalischen Eindrücke und die Einsamkeit der Tänzerin auf der Bühne das Gemüt ein. Manches ist vielleicht ein wenig plakativ, auch hätte man sich einen kreativeren Umgang mit der Kamera gewünscht, die in der Totale verharrt. Aber die Gesamtwirkung brechen diese Mängel nicht. Im Hinblick auf das eigene Leben bleibt der Trost, dass es auch wirklich gute Momente gab, die die ganze Schinderei lohnend machen. Davon ist bei Fractura nichts zu sehen. Nachdenklich bleibt man vor dem Monitor sitzen, ganz froh eigentlich, dass man sich jetzt nicht dem Applaus aussetzen muss. Wehr 51 ist da ein großes Werk gelungen, das den Zuschauer ganz tief drinnen berührt. Und klar ist auch, dass man das auf jeden Fall noch einmal im Theater erleben muss. Möglichst bald, aber das ist wohl mehr ein frommer Wunsch.

Michael S. Zerban