O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Victor Rubow

Aktuelle Aufführungen

Aus der Sicht eines Kindes

ALS MEIN VATER EIN BUSCH WURDE …
(Paula Scherf, André Lehnert)

Besuch am
30. August 2022
(Premiere)

 

Disdance Project im Theater Der Keller, Köln

Disdance Project ist eine Kölner Compagnie, die nicht nur dafür bekannt ist, das Theater in modernen, multidisziplinären Produktionen auf der Bühne weiterzuentwickeln wie zuletzt etwa mit Störfall, sondern Paula Scherf und André Lehnert engagieren sich auch stark im soziokulturellen Bereich. Besonders Kinder liegen den beiden am Herzen. „Disdance Project wehrt sich vehement gegen Ansichten und Taten, die das so genannte ‚Kindertheater‘ an den Rand drängen möchten, die es als Nebenschauplatz des ‚eigentlichen‘ Betriebes sehen“, heißt es geradezu kämpferisch in ihrer Broschüre.

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Dabei ist es ausgerechnet ein Stück, das sich an acht- bis zwölfjährige Kinder richtet, das bislang vom Pech verfolgt war. 2015 engagierten sich Scherf und Lehnert nicht nur in der Flüchtlingshilfe, sondern entwickelten parallel auch das Stück Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor frei nach dem Buch von Joke van Leeuwen. Nach der Uraufführung in der Alten Feuerwache Köln erlitt Lehnert einen Unfall und das Stück landete auf Eis. Jetzt, sieben Jahre später, steht ein strahlender Theatermacher vor seinem Publikum und präsentiert das Stück frisch und neu. Deshalb spricht er auch von einer Premiere. In die Vorpremiere am Vormittag, erzählt er lachend, kamen 160 Schüler auf 99 Sitzplätze. „Da kochte es vor Energie“, sagt er. Und das Stück ist aktuell wie eh und je. Gerade, weil in Deutschland nicht mehr über Flüchtlinge gesprochen wird, weil die eigenen Sorgen und Nöte beständig größer werden, ist es wichtig, vielleicht sogar viel wichtiger als in der Vergangenheit, das Thema des Stücks hochzuhalten.

Toda lebt bei ihrem Vater, einem Feinbäcker, in der Stadt Woanders. Dann bricht ein Krieg aus. Der Vater wird eingezogen. Die Oma übernimmt seine Rolle im Haushalt, bis der Krieg bedrohlich näher rückt. Die Oma entscheidet, dass Toda zu ihrer Mutter muss, die in einem friedlichen Land lebt, um sie zu beschützen. Sie schickt das Kind alleine auf die gefährliche Reise in ein möglicherweise besseres Leben. Disdance Project macht aus dem Buch einen „Tanztheater-Comic-Trip“, bei dem das Publikum das Mädchen begleitet. Das Theater Der Keller, das derzeit die Werkshalle der Tanzfaktur in Köln bespielt, hat Disdance Project den Bühnenraum zur Verfügung gestellt.

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Im Hintergrund sind fünf Leinwände aufgehängt, auf die handgezeichnete Illustrationen projiziert werden, die die Rahmenhandlung abbilden. Mit Reisebeginn „entspringt“ Toda der gezeichneten Welt und bewegt sich fortan tänzerisch auf der Bühne. Kinder lernen hier ganz ohne pädagogisch wertvolles Gewese den Perspektivwechsel. Es gibt keine Zahlenkolonnen über Flüchtlingsbewegungen, keine Aufstellungen, was Flüchtlinge den deutschen Staat „kosten“. Stattdessen werden die Erlebnisse eines Kindes auf der Flucht erlebbar. Da sind die Fluchthelfer noch das kleinere Übel. Scherf gelingt es, die kindliche Unsicherheit glaubwürdig zu vertanzen. Was in Todas Kopf vorgeht, erzählt Nagmeh Alaei mit wunderbarer Stimme aus dem Off.

Nach einer Stunde dürfte auch der letzte im Saal begriffen haben, wie ein Flüchtlingskind die Welt um sich herum wahrnimmt. Der aufbrausende Applaus jedenfalls spricht dafür, dass alle Anwesenden verstanden haben. Wenn Lehnert nach der Aufführung sagt, er habe hier ein absolut unpolitisches Werk erarbeitet, irrt er gewaltig. Er hat auf der Bühne das gemacht, wofür Theater da ist. Mit künstlerischen Mitteln einen Gegenpol zu staatlichem Denken und dessen Verbreitung in öffentlich-rechtlichen Medien zu schaffen. Flüchtlinge sind keine Masse, die zur Disposition steht, sondern Menschen, die Hilfe brauchen. Es wird Zeit, dass wir zu einer humanistischen Sichtweise zurückkehren. Dazu hat Disdance Project einen wesentlichen Schritt beigetragen. Und mindestens die Kölner Grundschulen tun gut daran, ihre Schüler in die Aufführung zu schicken, wenn sie ihren Bildungsauftrag auch nur noch halbwegs ernstnehmen.

Weitere Aufführungstermine stehen in Kürze auf der Webseite von Disdance Project. Schulen fragen eigene Aufführungen unter derselben Adresse an. Dann erfahren sie auch, warum Todas Vater ein Busch wurde.

Michael S. Zerban