O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ellen Bischke

Aktuelle Aufführungen

Fast irre gut

DU MACHST MICH GANZ VERRÜCKT!
(Diverse Komponisten)

Besuch am
16. Oktober 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Liedfestival Ruhr im Schloss Borbeck, Essen

Vier Tage lang hatten Judith Hoffmann und Martin Günther während der zweiten Ausgabe ihres Liedfestivals Ruhr Gelegenheit, möglichst viele Facetten des Kunstliedes zu zeigen. Zur Seite stand ihnen dabei im Schloss Borbeck im gleichnamigen Essener Stadtteil Anne Hein, die mit einer fabelhaften Technikorganisation zum Gelingen des Festes beitrug. Nicht nur namhafte Künstler sind angereist, sondern auch die Themen sind ungewöhnlich genug gewesen, um das Publikum anzulocken – inklusive einiger Auftragskompositionen, die eigens für das Festival angefertigt wurden. Dass die Besucher in gewünschter Zahl trotzdem ausblieben, liegt wohl eher an den früheren Fehlern anderer, die gerade für eine massive Publikumsabsenz bundesweit sorgen.

Immerhin, erzählt Günther, kamen die Kinder am Sonntagnachmittag zahlreich, als Melodia Ringelfuß auf geheimer Mission unterwegs war. Allein schon die Beschreibung des Stücks dürfte bei Kindern die Herzen höherschlagen lassen. „Prinzessin Euforia ist tieftraurig – ihre Glückskekse sind alle, und das Rezept ist spurlos verschwunden. Die schrille Weltraumagentin Melodia Ringelfuß erhält deshalb einen Auftrag von der intergalaktischen Glücksmelodienbehörde und begibt sich mit Hilfe von Dr. von Klimperer und einer sehr seltsamen Lieder-Maschine durch Raum und Zeit auf die Suche nach den Glückszutaten.“ Ein Grund mehr, die Kindervorstellung auch im kommenden Jahr wieder stattfinden zu lassen. Und die Uraufführung des heutigen Nachmittags auch an anderen Orten gastieren zu lassen. Denn noch sorgen die anstehenden Budgetkürzungen für die Kulturinstitutionen nicht dafür, dass bei der Kulturpädagogik gespart wird – und die ist notwendiger denn je.

Hagen-Goar Bornmann – Foto © Ellen Bischke

Auch wenn es geschmacklos klingt, ist die Nachwuchsförderung im Kulturbereich mindestens genauso wichtig, denn, auch wenn noch keine genauen Zahlen vorliegen, ist es doch kein Geheimnis, dass viele Künstler unter dem Druck der Auftrittsverbote während der Pandemie der Kultur verlorengegangen sind. Deshalb ist ausgesprochen begrüßenswert, dass auch das Liedfestival Ruhr als letzten Programmpunkt aufstrebendem Nachwuchs einen Platz einräumt. Gemeint sind in diesem Fall der Bariton Hagen-Goar Bornmann mit seinem Klavierbegleiter Tilman Wolf und dem Sprecher Tomte Heer. Wolf hat sein Studium an der Folkwang-Universität der Künste in Essen abgeschlossen, Bornmann und Heer studieren dort noch. Sie legten ein Konzept für einen Auftritt beim Festival vor, das Hoffmann und Günther begeisterte.

Du machst mich ganz verrückt! – Botschaften der Seele heißt ein Liederabend, der sich eines hochinteressanten Themas annimmt. Künstler, die dem Wahnsinn verfallen. Dass Genie und Wahnsinn nah beieinanderliegen, ist eine Binsenweisheit. Damit geben sich die Studenten nicht zufrieden. Sie wollen einen „intermedialen Gesprächsraum“ eröffnen und die Konfrontation verschiedener Kunstwerke miteinander und mit hereinbrechenden Wirklichkeiten in Form von historischen Quellen betreiben und so Perspektiven auf die „Allgegenwärtigkeit einer Gefährdung und Verwundbarkeit der menschlichen Seele jenseits romantisierender Klischees“ eröffnen. Das klingt nach einem Anspruch, vor dem schon Profis den Hut ziehen. Bei Hochschulaufführungen beschränken sich Kritiker gern darauf, die positiven Ergebnisse zu betonen und das, was vielleicht nicht so gut gelaufen ist, außen vor zu lassen. Das gilt nicht für die, die sich an die Öffentlichkeit begeben und damit für bühnenreif erklären.

Beim Betreten des Residenzsaals bietet sich ein ähnliches Bild wie am Vorabend. Der Flügel steht unverändert, die Pappkartons, Gepäckstücke und der Notenständer sind verschwunden. Stattdessen gibt es ein Beistelltischchen vor einem Sitzmöbel, auf dem Bornmann und Heer mit ein paar Kladden und Büchern Platz genommen haben. Wolf sitzt am Bühnenrand in der Nähe des Flügels. Alle drei wirken recht entspannt, die Vorbereitungen scheinen also abgeschlossen zu sein. Heer, der an diesem Abend einen für einen Schauspieler sehr überschaubaren Text hat, eröffnet den Abend mit einer kurzen Einführungslesung vom Blatt sitzend. Überhaupt wird er sich nur zwei Mal erheben. Um einen kurzen Vortrag im Stehen zu halten und zum Schlussapplaus. Das mag für die Rolle des angekündigten Sprechers ausreichend sein, in der Gesamtwirkung der Aufführung ist es ein bisschen wenig.

Tomte Heer – Foto © Ellen Bischke

Blass bleibt es auch bei der Recherche. Die jungen Herren haben sich auf drei Künstler kapriziert. Das ist legitim. Aber da hätte man sich doch gewünscht, dass eine größere Dimension abgesteckt wird, in der sich diese Fälle abspielen. Zum einen geht es um Adolf Wölfli, der 35 Jahre in der schweizerischen Nervenheilanstalt Waldau verbrachte und dort ein umfassendes künstlerisches Werk aus Schriften, Bildern und Kompositionen schuf. Dem gegenüber steht der allzu bekannte Fall des Robert Schumann, der 1954 in die Heilanstalt in Bonn-Endenich eingeliefert wurde, in der er zwei Jahre später starb. Erwähnt wird auch Hugo Wolf, der am Lebensende vier Jahre in einer österreichischen Landesirrenstalt verbrachte.

Bariton Bornmann, der bereits Studiengänge als Musikpädagoge und Blockflötist absolviert hat und somit über ein ausreichendes Selbstbewusstsein für einen Bühnenauftritt verfügt, studiert derzeit Operngesang. Er präsentiert stimmgewaltig und mit einem guten Gespür für die richtigen Akzente Lieder von Schumann, aus dem Wölfli-Liederbuch von Wolfgang Rihm, Franz Schubert, Hugo Wolf und Clara Schumann. Da ist noch nicht alles Gold, aber es glänzt schon ordentlich was. Dazwischen werden Projektionen von Rorschach-Bildern, animierten Bildern von Wölfli, Pflegeberichte und andere Texte eingeblendet. Für die Bilderschau sind Antonia und Ellen Bischke verantwortlich. Warum die Pflegeberichte von Wölfli und Schumann parallel gezeigt werden, erschließt sich genauso wenig wie der Vortrag eines Briefes von Clara Schumann von Heer. Hier hätte die Off-Einblendung einer weiblichen Stimme weitaus mehr Wirkung gezeigt und der Ankündigung eines multimedialen Liederabends entsprochen.

Diese Kleinigkeiten könnte man hinnehmen, wenn es denn mal voranginge. Die gesamte Aufführung wirkt, als habe man zuvor einen Chemtrail über der Bühne ausgeschüttet. Wer auch immer den Jungs den dramaturgischen Tipp gegeben hat, das Programm in Zeitlupe mit vielem Flüstern zwischendurch über die Bühne zu bringen, gehört geprügelt, geteert und gefedert. Da ist der Bruch am Ende der einstündigen Aufführung in Thema und Tempo geradezu revolutionär. Bornmann und Wolf erheben das Lied Mein linker Arm aus den Sadopoetischen Gesängen Konstantin Weckers in den Rang eines Kunstliedes. Ob einem die Interpretation nun besser gefällt als das Original, ob es tatsächlich in den Rahmen des Programms passt, ist egal. Der Knalleffekt sitzt. Bravo.

Das Publikum applaudiert kurz, aber von Herzen. Und damit kommt ein außergewöhnliches Festival zum Ende, das in vier Tagen bewiesen hat, dass es im nächsten Jahr wieder stattfinden muss.

Michael S. Zerban