O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ellen Bischke

Aktuelle Aufführungen

Aktueller denn je

HANDWERK HOFFNUNG
(Diverse Komponisten)

Besuch am
15. Oktober 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Liedfestival Ruhr im Schloss Borbeck, Essen

Der dritte von vier Abenden beim Liedfestival Ruhr wird kein Abend für Sensibelchen. Opernsängerin Judith Hoffmann, die das Festival im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem Dramaturgen Martin Günther gegründet hat, präsentiert ihr eigenes Programm. Spielstätte ist wie während des gesamten Festivals das Essener Schloss Borbeck. 896 erstmals erwähnt, diente die Wasserburg seit dem 14. Jahrhundert den Essener Äbtissinnen als Residenz. Im 17. Jahrhundert erfolgte ein Neubau im Renaissance-Stil. Die schlichte Form mit geschweiftem Giebel und Turmhauben stammt von einem Umbau im 18. Jahrhundert. Heute dient das in einen großen Park eingebettete Anwesen einerseits als beliebter Ort für Hochzeiten und andererseits als Kulturzentrum mit dem Residenzsaal, der zumindest eine Grundausstattung an technischen Möglichkeiten für kulturelle Aufführungen bietet. Kostenlose Parkplätze vor dem Schlosshof runden das Ambiente dieses Idylls in der Stadt ab.

Heute Abend also heißt es: Handwerk Hoffnung – Geschichten von Heimat und Fremde. Zugrunde liegt die Erkenntnis, dass niemand freiwillig die Heimat verlässt. Es muss eine akute Bedrohung der Existenz vorliegen. Das galt zu Zeiten des Nazi-Regimes in Deutschland ebenso, wie es im jetzigen Krieg Putins gegen die Ukraine gilt. Viele der Künstler, die sich in den Exodus aus Deutschland begaben, waren in ebenso konkreter Lebensgefahr wie heute die Menschen in den russischen Bombardements. Dass beispielsweise der Familie Mann bis heute vorgeworfen wird, sie hätten Deutschland „im Stich gelassen“ ist auf dem gleichen Niveau, einer ukrainischen Frau mit Kindern anzukreiden, dass sie aus ihrer Heimat flüchtet, bloß, weil die Ukraine bombardiert wird. Dass es mit der rechtzeitigen Flucht keineswegs getan ist, zeigt Hoffmann. Die Künstler, die vor dem Nazi-Regime nach Amerika flohen, litten höchste Not. Nur wenige kamen in der neuen Heimat an. Wurden dort sogar erfolgreich. Einige gingen in den Freitod, andere verarmten bitterlich. Und keiner verlor seine Sehnsucht zur Heimat. Es war also ein echtes Handwerk, die Hoffnung auf ein gutes Leben aufrechtzuerhalten.

Judith Hoffmann und Johannes Held – Foto © Ellen Bischke

Im Residenzsaal ist die Bühne schräg zum Saal aufgebaut. Schwarze Vorhänge im Hintergrund geben lediglich einen Ausschnitt einer Projektionsfläche frei. Links steht ein Flügel, rechts ein Notenständer. Dazwischen ist Platz für weiße Pappkartons, auf denen zwei Koffer und ein stilisiertes Kofferradio abgelegt sind. In der Folge werden die Pappkartons immer wieder in bestimmter Reihenfolge umgebaut – eine unglaubliche Zusatzleistung der Sänger, die eigentlich ausreichend mit der Vielzahl von Liedern beschäftigt sind – so dass Projektionen nicht nur auf der großen Fläche, sondern auch beispielsweise Wolkenkratzer als Sinnbild Amerikas auf den Pappkartons gezeigt werden. Auf der großen Projektionsfläche sind die Verheißungen einer besseren Welt zu sehen: Ein Bild des rund 220 Tonnen schweren Hollywood-Schriftzuges in den Hollywood Hills, ein Schiff oder die Freiheitsstatue. Zuvor gibt es noch die Begrüßung durch Martin Günther, der mit einer guten Nachricht aufwarten kann. Weil Doriana Tchakarova als Pianistin teilweise indisponiert ist, ist ihr Friedemann Rieger beigesprungen, der einen Teil des Klavierparts übernimmt.

Dann aber geht es endlich los – wann hören diese Verspätungen wieder auf? Mit südländischer Mentalität hat das nichts zu tun; wenn es bei Italienern zu Verspätungen kommt, setzt der Protestapplaus ein – und der szenische Liederabend kann beginnen. Johannes Held betritt in einem fantastischen Anzug die Bühne. 50-er-Jahre-Stil, dem man ansieht, dass er vor Bequemlichkeit nur so strotzt. Hat den nicht schon Bert Brecht getragen? Mit Sicherheit. Der Bariton mit der übermäßigen Spielfreude interpretiert das erste der drei Lieder, die das Liedfestival Ruhr beim Komponisten Gordon Kampe in Auftrag gegeben hat, um den Bezug zur Gegenwart herzustellen. Imago nach einem Gedicht von Karl Krauss, Wiederfinden nach einem Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe und die Abschieds-Aria nach Worten von Martin Günther bilden den Rahmen, in dem die Lieder der Exilanten dargeboten werden.

Friedemann Rieger und Doriana Tchakarova – Foto © Ellen Bischke

Hanns Eisler, Erich Wolfgang Korngold, Alexander Zemlinsky und Kurt Weill kommen ebenso zu Wort wie Alma Mahler, Sergei Rachmaninow und Arnold Schönberg. Nur wenige Lieder wie der Kanonensong oder die Zuhälterballade sind wirklich einem breiteren Publikum bekannt. Allesamt haben sie sich in Los Angeles getroffen. Und sie haben Texte vertont, die vom Verlust der Heimat, von Flucht, von Trennungsschmerz und der Hoffnung berichten. Da hat es sich gelohnt, dass Judith Hoffmann ein wunderschönes, schwarzes Kleid – es könnte aus den 1950-er Jahren stammen – und einen Designer-Hutschmuck gewählt hat, für den sie vielleicht wochenlang durch Antiquariate gestromert ist, wenn sie ihn nicht gleich für sich hat anfertigen lassen. Da steht sie zierlich auf der Bühne, zwischen Pappkartons und Flügel, um vom Abschied zu singen, von der Sehnsucht nach dem Leben und dem Liebsten, während Held wenigstens die Schönheit der neuen Stadt als Ort der Hoffnung auf ein besseres Leben feiert. Gar ein kleines Tänzchen wagen sie, wenn er ihr schwört: Here I’ll stay. Besonders ergreifend wird es beim Vortrag von der Heimkehr, einem Werk von Hanns Eisler und Bertolt Brecht, weil es so genau die Situation vieler Ukrainer im Moment erfasst, wenn von Rückkehr die Rede ist, obwohl die Bomben noch auf die Heimatstadt fallen. „Die Vaterstadt, wie empfängt sie mich wohl? Vor mir kommen die Bomber. Tödliche Schwärme melden euch meine Rückkehr. Feuersbrünste gehen dem Sohn voraus“, heißt es bei Brecht. Auf dem Abendzettel sind nur die Lieder von Kampe im Wortlaut wiedergegeben, zu den übrigen Liedern gibt es kurze Inhaltsanmerkungen, so dass die Besucher sich ganz auf die Bühne konzentrieren können. „Ich werde zurückkommen, aber es muss erst schlimmer werden, bevor es besser wird“, heißt es da zur Heimkehr.

Anderthalb Stunden, jeweils nur kurz von Umbauten unterbrochen, die die Sänger selbst vornehmen, gelingt es den Akteuren, ihr Publikum auf emotionalen Wellen in eine Zeit mitzunehmen, die schon so lange vorüberschien, ehe die Gegenwart uns die Zerbrechlichkeit von Frieden und Heimat wieder vor Augen führt. Ergriffen vergessen die Besucher alsbald den Zwischenapplaus, um die Künstler anschließend umso heftiger zu feiern.

„Botschaften“ heißt das Motto des diesjährigen Festivals, mit dem Hoffmann und Günther das Lied wieder ins Blickfeld des Musikliebhabers rücken wollen, was an diesem Abend eindeutig gelungen ist. Der letzte Abend, nachdem am Sonntagnachmittag ein Stück für Kinder auf dem Programm steht, gehört dem Nachwuchs. Du machst mich ganz verrückt! heißt vielversprechend der multimediale Liederabend mit dem Untertitel Botschaften der Seele, den Hagen-Goar Bornmann, Tilman Wolf und Tomte Heer präsentieren werden. Es wird, wenn man den Worten der Künstler glauben darf, ein fantastisches Finale werden.

Michael S. Zerban