O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Katja Illner

Aktuelle Aufführungen

Wiedersehen mit einer Großen

VENUS UN/SEEN
(Alexandra Waierstall)

Besuch am
30. Seotenber 2020
(Generalprobe)

 

Tanzhaus NRW, Großer Saal

Die Entwicklungen in der Kulturlandschaft sind beängstigend. Freischaffende Künstler, die unter dem angstmachenden technokratischen Begriff Solo-Selbstständige subsumiert werden, verlassen ihre Visionen und Berufe, weil sie ihr Überleben sichern müssen. Privat-Theater schließen, weil sie von verängstigten Bürgern im Stich gelassen werden. Der große Einbruch aber steht noch bevor. Das Geld des Staates wird derzeit in eine Wirtschaft gepumpt, die angeblich vor März zu einer der besten der Welt gehörte und in der Krise offenbar keine drei Monate überstehen konnte – wenn das denn stimmt. Weil sich der Staat aber das Geld an irgendeiner Stelle wiederholt, werden zuallererst die Budgets der großen Kulturinstitutionen zur Disposition gestellt werden. Das ist keine böse Verschwörungstheorie, sondern eine Erfahrung der Vergangenheit. Umso größer ist die Freude, wenn man dieser Tage auf Künstler trifft, die den Shutdown nicht nur überlebt haben, sondern die Zeit auch nutzen konnten, um sich zu fokussieren und neue Arbeiten zu entwickeln.

Eine davon ist Alexandra Waierstall, eine der vielversprechendsten Choreografen unserer Zeit. Während des Shutdowns hat sie nicht nur ein neues Filmprojekt mit Marianna Christofides in Angriff genommen, das allerdings erst im nächsten Jahr aktuell werden wird, sondern auch ein Solo entwickelt, das sie jetzt im Tanzhaus NRW in nur zwei Aufführungen vorstellt. Bislang gehörte zu den Stärken ihrer Arbeit die Gruppendynamik. Da darf man das Solo Venus un/seen mit besonderer Spannung erwarten.

Foto © Christian Hermann

Wie üblich assistiert Vater Horst Weierstall bei der Gestaltung von Bühne und Kostüm. Das Gefühl für große Räume haben die beiden nicht verloren. Selbst für ein Solo benötigen sie Bühne und Seitenbühne im Großen Saal des Tanzhauses. Was zunächst ein wenig verwegen klingt, wird im Laufe des 50-minütigen Abends zur choreografischen Notwendigkeit. Sie werden die Fläche, auf der lediglich eine silbern glänzende Folie im Hintergrund und ein farbloser – vielleicht dunkelgrüner oder schwarzer – Mantel am vorderen Rand der Bühne Platz finden, raumfüllend bespielen. Viel mehr braucht es auf dieser Bühne auch nicht, die von Caty Olive in passend wechselndes Weißlicht getaucht wird. Auch die indirekte Beleuchtung über ein im Himmel angesetztes Segel darf natürlich in einer Schlüsselszene nicht fehlen, um die ungewöhnlichen Effekte nicht zu verpassen.

Wie immer legt Waierstall Wert auf durchdachte Kostüme. In diesem Solo werden sie nahezu selbsterklärend. Oder stückerklärend, wie man will. Ein Wesen, möglicherweise aus der Phase vor der großen Krise, betritt vom linken Bühnenrand die Fläche. Es lässt sich viel Zeit, sich am neuen Ort – der neuen Dimension? – zu orientieren. Ebenfalls in glänzende Folie gekleidet, mit einer Maske, die sein Gesicht vollständig bedeckt und keinen Zweifel lässt, dass es sich hier um eine Venus handelt. Den Wesen der Erde ähnlich und nahe, aber doch so verschieden. Wenn jemand sich einem neuen, bislang gänzlich unbekannten Ort nähert, wird er sich auf Dauer der neuen Umgebung anpassen. Und so verliert das Wesen allmählich die eigene Identität, passt sich frohgemut in großen Posen an den neuen Ort an. Alles Glitzernde verliert sich, darunter tritt eine Tänzerin im silbermattfarbenen Trikot zutage.

Karolina Szymura ist keine Unbekannte. Schon in Annna³> war sie dabei, jetzt hat ihre große Stunde geschlagen. Ganz allein darf sie sich auf der Fläche präsentieren. Und sie zeigt ein beeindruckendes Bewegungsmaterial. Das Trikot lässt Hintern und Beine unbedeckt, erlaubt den Blick auf die eindrucksvolle, durchtrainierte Beinmuskulatur; sie durchschreitet große Räume oder durchtanzt sie in großen Bögen, ohne auch nur einen Moment an Faszination zu verlieren. Selbst, wenn sie wohldosierte Pausen einlegt, mag man den Blick nicht von dem schweratmenden Körper lassen. Allmählich wandelt sie sich von der außerirdischen Prinzessin zunächst in eine vollkommen anonymisierte Erdenbewohnerin, wird quasi unsichtbar, ehe sie sich unter den marginalisierten Worten von Dani Brown in einen Menschen wie du und ich verwandelt. Sie streift ihr Trikot ab und legt schwarzes T-Shirt und kurze Hosen an.

Hauschka hat auch dieses Mal die Musik zum Fest komponiert, eine Live-Aufführung bleibt allerdings aus. In Szenen eingeteilt, lässt er Melodien perlen, die er mit markanten Klängen durchsetzt. Nachdem Szymura allerdings bereits in den ersten zehn Minuten bewiesen hat, dass es diese Musik nicht braucht, erreicht der Komponist nicht viel mehr als eine beliebige Untermalung.

Alexandra Waierstall hat sich – glücklicherweise – mit einem starken Stück zurückgemeldet. Und ganz nebenbei bewiesen, dass sie auch Solo kann. Da ist die Hoffnung groß, dass ihr Name die Reihen im Tanzhaus füllen wird. Corona kann kein Argument sein. Schließlich setzt das Tanzhaus NRW alles daran, seinen Besuchern größtmögliche Sicherheit vor einer Infektion zu bieten.

Michael S. Zerban