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Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Dorothea Tuch

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Handspiel

200 WAYS
(Alfredo Zinola)

Besuch am
2. April 2022
(Uraufführung)

 

Tanzhaus NRW, Studio 6, Düsseldorf

Die Königsdisziplin im Tanz ist das Solo. Nicht etwa, weil hier besondere körperliche Fertigkeiten vonnöten wären, sondern weil der Solist ein Programm entwickeln muss, dem es gelingt, das Publikum über einen längeren Zeitraum zu fesseln. Wenn man das noch steigern will, dann choreografiert man ein Solo für Kinder. Eine aberwitzige Herausforderung, wenn man nicht gerade als Clown auf die Bühne geht – und selbst dann ist es schwierig, weil auch die lustigsten Tanzfiguren für die Kinder schnell fad werden.

Alfredo Zinola kennt sich mit Kindern wie wohl kaum ein anderer Choreograf aus. Er hat zahlreiche Programme speziell für Kinder ab sechs Jahren und deren Begleitpersonen entwickelt. Seine Fantasie kennt dabei kaum Grenzen, wie etwa aus dem Stück Pelle nur allzu gut erinnerlich. Also sollte er auch besonders gut wissen, was nötig ist, um Kinder zu begeistern. Viel buntes Material, visuelle Effekte, fröhliche Musik und möglichst viele Menschen auf der Bühne sind Garantien, um die lieben Kleinen über einen vernünftigen Zeitraum zu fesseln. Der sollte, darüber sind sich professionelle Musikvermittler einig, nicht über eine Stunde hinausreichen.

Jetzt stellt Zinola seine neueste Produktion 200 Ways im Studio 6 des Tanzhauses NRW vor. Und nein, das kann eigentlich nicht gutgehen, was er da vorhat. Ein Solo im Trainingsanzug mit Musik und Licht, dafür ohne Utensilien – und das über 50 Minuten. Der Choreograf ist ein junger, gesund wirkender, überaus fantasiebegabter Mann. Es steht also kaum zu befürchten, dass ihn eine Krankheit befallen hat, die all sein erworbenes Wissen im Umgang mit Kindern ausgelöscht hat. Es muss also etwas geben, das ihn glauben lässt, er könne den Nachwuchs überzeugen.

Die Bühne ist es jedenfalls nicht. Drei Stuhlreihen, kreisförmig angeordnet, in einer Ecke ist die Technik untergebracht. Weniger geht kaum. Zudem wird den Besuchern im Vorfeld eingebläut, die Positionen der Stühle nicht zu verändern, um keine Infektionen zu bewirken. Dass Claudia Hill Zinola in einen Trainingsanzug gekleidet hat, scheint dem neuesten Trend im zeitgenössischen Tanz der so genannten Freien Szene geschuldet. Unattraktiv und für die Kinder langweilig ist es allemal. Immerhin haben Dramaturg Maxwell McCarthy, Lichtdesigner Marek Lamprecht und Techniker Emanuele Vallinotti gut zusammengearbeitet. Es gibt in den entsprechenden Abschnitten spannende Lichtwechsel, die die Kinder auch sichtlich beeindrucken. Auch die Musik, mit der Caspar Hesselager das Solo unterlegt, kann die Kleinen begeistern. Aber das reicht ja nicht.

Das weiß auch Zinola und hat sich deshalb etwas Besonderes einfallen lassen. Die Tanzbewegungen sind auf ein Minimum reduziert. Aber seine Finger arbeiten unentwegt. Beginnend mit plakativen Bewegungen, mit denen er die imaginären Seitenvorhänge zwischen den Zuschauern schließt, weitergehend mit den Finger- und Armbewegungen, mit denen er Beziehungen zwischen den einzelnen Zuschauern herzustellen versucht. Weder die Kinder noch ihre Mütter verstehen das so richtig. Aber sie verstehen, dass da irgendetwas Besonders, vielleicht Magisches, passiert. Vor allem, wenn der Tänzer seine Finger zum Himmel streckt, als wolle er gleich einem Rattenfänger die Kinder einsammeln und mit nach oben nehmen. Die Idee überzeugt.

Dass es trotzdem nicht so richtig funktioniert, liegt ausgerechnet an der Diszipliniertheit der Erwachsenen. Das Mädchen, das gern mittanzen will, wird von der Mutter mit entschlossener Bewegung auf ihren Schoß befördert und festgehalten. Die Mädchen nebenan haben sichtlich Spaß und imitieren die Hand- und Fingerbewegungen, ehe sie von ihren Müttern zur Ordnung gerufen werden – und schließlich mal geschlossen in Richtung Toilette verschwinden. Aber dann gibt es auch noch die Kleine, die ganz sicher noch nicht in die Schule geht. Mit ihren großen, schwarzen Augen verfolgt sie jede Bewegung von Zinola ganz genau und niemand weiß, in welchen Traumwelten sie gerade unterwegs ist. Wie heißt es sinngemäß: Habe ich einen gerettet, habe ich die Welt gerettet. In diesem Sinne ist es dann ein schöner Nachmittag, der mit freundlichem Applaus endet. Extra-Beifall gibt es für Zinolas Versuch, abseits ausgetretener Pfade Kinder zu begeistern.

Michael S. Zerban