O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Annemone Taake

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Mimes Experimentierküche

SIEGFRIED
(Richard Wagner)

Besuch am
2. April 2023
(Premiere)

 

Landestheater Coburg

Das ambitionierte Ring-Projekt am Landestheater Coburg geht mit der Neuproduktion des Siegfried bereits ins vierte Jahr. Ende September 2019 war mit dem Rheingold die Premiere des Vorabends der Tetralogie. Coronabedingt konnte die Premiere der Walküre erst im April 2022 erfolgen, O-Ton hat von beiden Aufführungen berichtet. Nun also steht mit Siegfried der zweite Abend der Tetralogie auf dem Programm, und es ist die große Frage, inwieweit die Entmythisierung des Werkes, die ja heutzutage obligat zu sein scheint, weiter fortschreiten wird. Alle Freunde dieser Form des Regietheaters sollen auf ihre Kosten kommen, so viel darf man vorwegnehmen.

Regisseur und Bühnenbildner Alexander Müller-Elmau gab sich bei der Walküre nach eigenen Angaben auf Spurensuche nach dem Mythos, um dabei an diverse Elemente und Requisiten aus dem Rheingold anzuknüpfen. Im Mittelpunkt des Vorabends steht die parallele Entwicklung von Wotan und Alberich als Antipoden, deren Aufeinandertreffen die verschiedenen Ebenen symbolisieren und das endgültige Scheitern der Götter vorwegnehmen. Das Rheingold war in dieser Inszenierung zunächst ein kleines menschliches Gehirn aus Gold. Dieses Gehirn wird im Laufe des Stückes durch die Nibelungen, die immer mehr schaffen, immer größer, bis dann in Nibelheim Alberich selber in im Hirn lebt. Müller-Elmau sieht das Gehirn aber nicht als Ausdruck des aufklärerischen Denkens, sondern es ist ihm Sinnbild für das Materialistische, das Goldene, das die Ratio, den Verstand ausblendet. Im Siegfried wird es noch einmal auf drastische Weise zum Einsatz kommen.  In der Walküre verließ Müller-Elmau diese Ebene, um dem „Mythos“ auf die Spur zu kommen. Und genau das war das Problem der Inszenierung: Müller-Elmau bediente zu viele Assoziationen, und die Frage nach dem „Mythos“ blieb am Ende unbeantwortet.

In einem Gespräch vor der Premiere des Siegfried äußerte sich Müller-Elmau, der im Übrigen auch Philosophie studiert hat, zu den „mythischen Bildern“ wie folgt: „Der Ring ist ein Zyklus, der sich aus der Mythologie heraus entwickelt, da sind mythische Bilder erst einmal naheliegend. Der Mythos steht aber immer in Auseinandersetzung mit der Aufklärung, deshalb sind die Bilder hier Teil eines Museums, in dem die Menschen von heute, bei uns die Gibichungen, nach einer Erklärung für die Götterdämmerung suchen, deshalb die Museumsbesucher auf der Bühne. Durch sie werden die ‚mythisch anmutenden Bilder‘ immer wieder gebrochen, der Zuschauer sieht sich selbst als Teil der Geschichte und die handelnden Figuren sind zwar psychologisch agierende Menschen, aber auch Teil der mythologischen Geschichte. Man kann den Mythos zwar ganz aus dem Ring verbannen, das halte ich aber insofern für gefährlich, da die Menschen bis heute, wie wir es ja gerade wieder im Ukraine-Krieg erleben, aus dem Mythos heraus handeln und wir uns mit diesem Nebel der Geschichte besser auseinandersetzen. Die Bilder selbst haben ihren Ursprung nur zum Teil im Ring, sie beziehen sich auf die gesamte nordische Mythologie, von der sich Wagner inspirieren ließ und eröffnen so auch andere Assoziationsräume.“

Es bleibt nun die spannende Frage offen, wie Müller-Elmau die Konzeption seiner ersten beiden Inszenierungen im Siegfried weiterführen wird. Zumindest in dieser Frage bleibt er stringent und konsequent. Im ersten Aufzug sehen wir zu Beginn die schon aus den vorherigen beiden Abenden der Tetralogie bekannten Besucher, die sich neugierig in der musealen Hütte Mimes umsehen, die allerdings nichts weiter als ein von innen beleuchtetes Zelt ist. Vorne ein vermüllter Schreibtisch mit einem geöffneten alten Computer, auf dem Stuhl sitzt einer der Zuschauer und begutachtet den ganzen Aufbau. Als Mime dann die Szene betritt, setzt er sich auf einen Besucherstuhl und zieht sich einen Kopfhörer über. Ist ihm die Musik zu laut, mag er den Gesang nicht? Wir wissen es nicht. Eine zweite Besucherin scheint eine Kritik zu schreiben. Sie macht sich gelegentlich Notizen, fotografiert die Szene mit dem Handy. Für die Handlung selbst sind diese Figuren überflüssig und lenken nur unnötig ab, aber das ist in diesem Ring-Konzept nichts Neues. Mime, von großer Statur und wahrlich kein Zwerg, ist mit grauem Wuschelhaar, langem Bart und tänzelndem Auftritt so eine Art Catweazle wie aus der gleichnamigen britischen Comedy-Serie. Kein weiser Schmied, wie ihn der Wanderer so treffend bezeichnet. Die Schmiedegeräusche, die oft in der Mime-Szene mit einem Hammer auf einem Metallstück durch den Darsteller selbst erzeugt werden, kommen aus dem Orchestergraben. Siegfried ist in seinen heruntergekommenen Klamotten und seinem fast schon debilen Auftreten eher der Typ Kleinkrimineller in sozialem Brennpunkt. Auf dem Kopf trägt er einen Metallreif mit Elektroden, die in ein Kabel münden, das Mime dann an seinen Computer anschließt. Eine der wenigen durchaus interessanten Ideen, dass Mime Siegfried mittels neurophysiologischer Impulse quält und manipuliert. Gehirnwäsche vom Allerfeinsten.

Doch als Siegfried sich dann entscheidet, das Schwert Nothung neu zu schmieden, reißt er sich die Elektroden vom Kopf, die blutigen Narben am Kopf sind den ganzen Abend deutlich zu sehen. Für die Wissenswette mit dem Wanderer dreht sich die Bühne einmal um 180 Grad, und der Wanderer alias Wotan erscheint in seinem bekannten Pelzmantel, der mittlerweile genauso heruntergekommen ist wie er selbst. Statt eines Hutes hat er sich eine dicke, wollene Kapuze über den Kopf gezogen, und wirkt nur noch desillusioniert und genervt. Witziger Moment in der Szene ist, dass Mime sich aus Angst ins Zelt verkrochen hat, nur ab und zu lugt der „Catweazle“-Kopf heraus. Siegfried schmiedet das Schwert neu, hämmert mit einem Metallstab voll im Takt zur Musik auf das rostige Fass, und zaubert am Ende statt eines Schwertes eine Pistole hervor. Das schmerzt dann beim Zusehen schon arg, wenn schon Pistole, dann hätte man das besser lösen können. Und dass die Pistole auch geladen ist, beweist Siegfried, indem er lautstark damit herumballert. Im Kontext zur Musik und zum gesungenen Text wieder mal überzogen und albern.

Der zweite Aufzug spielt ja bekanntermaßen im Wald vor Fafners Neidhöhle. Die ist ein großer Parabolspiegel, auf dem Boden liegt Alberich zwischen welken Blättern, und eine der unvermeidlichen Besucherinnen wirft die Blätter auf ihn. Ein Bärenfell liegt noch wie hingeworfen da. Der andere Besucher, mit einem orangefarbenen Luftballon bewaffnet, beobachtet die Szene genau. Nachdem Wotan den Riesen Fafner aufgeweckt hat, wird der große Spiegel nach oben gezogen, er hat einen riesigen Grammophontrichter verdeckt, aus dem die Stimme Fafners ertönt. Natürlich kommt es im Anschluss nicht zum Drachenkampf, stattdessen wird von der Decke ein überdimensioniertes goldenes Gehirn heruntergelassen, was wir, nur in kleineren Ausgaben, schon aus Rheingold und Walküre kennen. Das Gehirn wird Siegfried übergestülpt, und er schießt mit seiner Nothung-Pistole in das Gehirn und tötet damit den Wurm Fafner. Diese intellektuelle Transferleistung muss man erst mal vollbringen!

Fafner, splitternackt und ganz weißhäutig, nur mit einem Gonadenschutz bekleidet, erscheint mit einer Schusswunde in der Brust und stirbt in Siegfrieds Armen. Eine weitere vermeintliche Besucherin in einem silberfarbenen Satinkleid hat sich mittlerweile den Luftballon geschnappt. Es ist der Waldvogel, wie man unschwer erkennt. Wie ein Kleinkind versucht Siegfried, sich den Ballon zu schnappen, doch gegen die wendige und pfiffige Waldvogelfrau hat er keine Chance. Am Schluss eskaliert der Streit mit Mime, der Siegfried vergiften will. Der macht kurzen Prozess mit dem großen Zwerg und erschießt ihn genauso wie zuvor den Riesen Fafner. Er gönnt sich noch einen kleinen Schluck von Mimes Giftmischung, die er aber anscheinend unbeschadet übersteht, außer das ihm „heiß ward von der harten Last.“ Die Waldvogelfrau hat mittlerweile einen Federschmuck um den Kopf gelegt, jetzt wird die Rolle auch dem letzten Besucher klar, und führt den Kindskopf zu Brünnhilde.

Der dritte Aufzug beginnt zunächst auf nackter Bühne, man sieht nur ein paar übereinander geworfene Stühle und eine Frau mit schmutziger, pinkfarbener Hose und einer schmuddeligen Kapuzenjacke zusammengebrochen liegen. Im Hintergrund ein großes Gemälde im Stile des Coburger Hof- und Theatermalers Max Brückner, das einen brennenden Wald zeigt, als Metapher für den Feuerzauber, der Brünnhildens Fels umgibt und sie schützt. Die Besucher ziehen aus der am Boden liegenden Frau ein langes Seil heraus. Und dann wird klar, diese Gestalt mit strähnigen Haaren, eher Typ Junkie, ist Erda, die Wala, die Urmutter. Was für eine groteske Darstellung der so mythologischen Figur, was den Zauber dieser Szene natürlich zerstört, denn sowohl Wanderer Wotan als auch Erda sind zutiefst kaputte Typen. Spätestens hier endet der Mythos für immer. Der Wanderer schickt Erda ja eigentlich hinab in „festen Schlaf“, doch bei Müller-Elmau nimmt sie auch die Rolle einer Beobachterin des weiteren Geschehens ein. Im Kampf zwischen Wanderer und Siegfried entwendet der seinem Großvater den Speer und zerbricht ihn, was soll er auch machen, ohne Schwert und nur mit einer Pistole bewaffnet. Wieder so eine Szene, die weder mythologisch noch inhaltlich wirklichen Sinn ergibt.

Besonders grotesk wird dann die dritte Szene, wenn Siegfried Brünnhilde erweckt. Auf einem rollbaren Labortisch liegt zwar eine Frau, doch es ist eindeutig nicht Brünnhilde, sondern die Waldvogelfrau. Oder ist es gar die Göttin Freya, so wie es im Programmheft angegeben ist? Man weiß es nicht, und es spielt auch keine Rolle, denn die Logik, die dahinterstecken soll, ist eh nicht nachvollziehbar. Brünnhilde selbst sitzt auf einem Stuhl im Hintergrund und beobachtet die Szene, was soll sie in dieser Inszenierung auch anderes tun? Der omnipräsente Besucher hat sich jetzt einen Pferdekopf übergezogen, damit auch jeder Theaternovize weiß, er soll Grane darstellen, Brünnhildes Schlachtross. Und da Siegfried ja bekanntermaßen über kein Schwert verfügt, nimmt er ein kleines Taschenmesser und öffnet den Brustpanzer der Waldvogelfrau. Als diese dann erwacht ist, erhebt sich auch Brünnhilde von ihrem Platz, um mit Siegfried ein distanziertes Schlussduett zu singen. Nun hat auch Freya, die natürlich nur im Rheingold vorkommt, wieder eine Beobachterposition eingenommen und überreicht Brünnhilde die blonde Perücke, die diese quasi als Helmersatz in der Walküre noch getragen hat. „Leuchtende Liebe, lachender Tod“ sind die letzten Worte von Siegfried und Brünnhilde, aber das ist so emotionslos und nichtig dargestellt, dass sich jede weitere Diskussion über diese Szene verbietet.  Zumindest eines muss man Alexander Müller-Elmau zugutehalten: Er ist und bleibt konsequent in seiner destruktiven Art der Entmythologisierung des Ringes. Und es bedarf keiner prophetischen Gabe um vorauszusagen, das wird am Ende in der Götterdämmerung noch drastischer werden. Auch der Stil der Kostüme von Julia Kaschlinski hat sich ebenfalls nicht geändert und setzt den abgewrackten Charme der vorherigen Produktionen fort.

Musikalisch und sängerisch ist der Abend dafür aber ganz passabel. Michael Lion als Wanderer  überzeugt wieder mit schönem, warmem Bariton, vielen Farben und sauberer Deklamation. Auch spielerisch zeigt er die Einsamkeit des fast schon manisch-depressiven Göttervaters. Patrick Cook ist als Heldentenor noch ein Leichtgewicht, hat aber schöne, strahlende Höhen und zeigt, dass seine musikalische Entwicklung genau in dieses Fach geht. Man wird ihn sicher auch bald in solchen Rollen an größeren Häusern hören. Simeon Esper gibt den Mime mit ausdrucksstarkem Spiel und kraftvollem Charaktertenor. Åsa Jäger, die sich in der Rolle der Brünnhilde in der Walküre schon einen großen Erfolg ersungen hat, fügt mit leuchtenden Höhen und großvolumiger Stimme ihrer noch so jungen Karriere ein weiteres erfolgreiches Kapitel hinzu. Bartosz Araszkiewicz ist mit tiefschwarzem Bass ein idealer Fafner, was man von Martin Trepl als Alberich leider nicht behaupten kann. Sein Bariton ist für diese Rolle zu hoch und zu leicht, das war auch schon das Problem im Rheingold. Es ist ja löblich, wenn die Theaterleitung einem Chorsänger die Chance auf Soloauftritte ermöglicht, aber auch die kurze Rolle des Alberich im zweiten Aufzug muss erst mal gesungen werden, vor allem wenn es dann in die Duette mit dem Wanderer und Mime geht, da hat Trepl wenig entgegenzusetzen. Evelyn Krahe gibt die Erda mit tiefem Alt, der nicht mütterlich warm und schön daherkommt, sondern vom Timbre eher der Abgesang einer Erda ist. Dafür weiß Francesca Paratore als Waldvogel mit glockenhellem Sopran und anmutigem Spiel als Waldvogelfrau zu begeistern.

Das Philharmonische Orchester des Landestheaters Coburg unter der Leitung seines Chefdirigenten Daniel Carter weiß auch an diesem Abend trotz der eingeschränkten Möglichkeiten wieder zu überzeugen. Wie schon in der Walküre gibt es die Fassung von Gotthold Ephraim Lessing, nicht identisch oder verwandt mit dem großen deutschen Dichter, der von 1933 bis 1935 erster Kapellmeister in Coburg war und eine orchestral reduzierte Fassung und Bearbeitung des Werks erstellt hat. Zwar vermisst man die eine oder andere Differenziertheit im klanglichen Ausdruck, insgesamt ist die Fassung aber für ein kleines Haus wie Coburg ideal. Carter führt das Orchester mit facettenreichem Spiel durch die schwierige Partitur. Präzise werden die vielen Leitmotive herausgearbeitet, und die Bläser spielen akzentuiert, nur wenige Unsauberkeiten sind da zu vernehmen. Im schon fast kammermusikartigen Waldweben erzeugt Carter fast ein musikalisches Siegfried-Idyll. Er begleitet die Sänger sicher durch die Partie, die gefährlichen Forte-Stellen der Partitur hat er souverän im Griff, nur manchmal ist das Orchester, auch wenn es reduziert ist, etwas zu laut.  Das Tempo ist relativ langsam, trotzdem mit schnellen Anzügen und expressiven Ausbrüchen.

Am Schluss gibt es großen Applaus und Jubel  im nicht vollen Coburger Landestheater für das gesamte Ensemble, besonders Michael Lion, Åsa Jäger und Daniel Carter werden gefeiert. Das war für lange Zeit die letzte Premiere am Coburger Landestheater, denn das Haus soll umfangreich saniert werden. Ab der nächsten Spielzeit zieht das Theater in die Coburger Kulturstätte Globe um, dort wird es dann auch mit der Götterdämmerung den finalen Schluss der Coburger Ring-Tetralogie geben.

Andreas H. Hölscher