O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Annemone Taake

Aktuelle Aufführungen

Musealer Mythos

DIE WALKÜRE
(Richard Wagner)

Besuch am
6. November 2022
(Premiere am 18. April 2022)

 

Landestheater Coburg

Das Landestheater Coburg hat mit der szenischen Neufassung von Richard Wagners Ring des Nibelungen ein Mammutprojekt angestoßen, das über vier Spielzeiten angelegt war. Die Corona-Pandemie hat jedoch den Zeitplan gründlich durcheinandergewürfelt. Vor gut drei Jahren war die Premiere des Rheingold, von der O-Ton berichtet hat.

Im April dieses Jahres war dann die Premiere der Walküre, und im März kommenden Jahres steht Siegfried auf dem Spielplan. Zwischendurch gab es einen Wechsel an der Spitze der musikalischen Leitung des Philharmonischen Orchesters des Landestheaters Coburg. Seit Februar 2021 steht Daniel Carter als GMD-Nachfolger von Roland Kluttig, der noch die Premiere des Rheingold geleitet hatte, an der Spitze des Orchesters. Gleichzeitig muss das Landestheater zum Ende der Spielzeit wegen längst überfälliger Sanierungsarbeiten für mehrere Jahre geschlossen werden, die Spielgenehmigung für das Haus erlischt. Der Bau einer Übergangsspielstätte hat sich wegen Insolvenz der Baufirma auch verzögert, man hofft, im Mai 2023 in die Übergangsstätte einziehen zu können. Und die Intendanz von Bernhard F. Loges endet ebenfalls zum Ende der Spielzeit. Es sind insgesamt turbulente Zeiten in Coburg und keine idealen Voraussetzungen, ein ambitioniertes Projekt wie den Ring an einem kleinen Landestheater auf die Bühne zu bringen.

Regisseur und Bühnenbildner Alexander Müller-Elmau begibt sich bei der Walküre nach eigenen Angaben auf Spurensuche nach dem Mythos, um dabei an diverse Elemente und Requisiten aus dem Rheingold anzuknüpfen. Im Mittelpunkt des Vorabends stand die parallele Entwicklung von Wotan und Alberich als Antipoden, deren Aufeinandertreffen die verschiedenen Ebenen symbolisierten und das endgültige Scheitern der Götter vorwegnahm. Das Rheingold war in dieser Inszenierung zunächst ein kleines menschliches Gehirn aus Gold. Dieses Gehirn wurde im Laufe des Stückes durch die Nibelungen, die immer mehr schafften, immer größer, bis dann in Nibelheim Alberich selbst in diesem Hirn lebte. Müller-Elmau sah das Gehirn aber nicht als Ausdruck des aufklärerischen Denkens, sondern es war ihm Sinnbild für das Materialistische, das Goldene, das die Ratio, den Verstand ausblendet.

In der Walküre nun verlässt Müller-Elmau diese Ebene, um dem „Mythos“ auf die Spur zu kommen. Der Regisseur habe versucht, möglichst alles zu lesen, was Wagner auch gelesen hat. Neben Edda, Völsungasaga und Nibelungenlied habe Wagner sich vieler weiterer Motive aus der Sagenwelt bedient und die assoziativ in die Haupthandlung einfließen lassen, ohne alle Verknüpfungen offenzulegen. Dadurch seien narrative Lücken und lose Enden entstanden, die die eigene Fantasie herausfordern. Diese assoziativen Momente will Müller-Elmau beibehalten, und deshalb greife die Bildwelt seiner Inszenierung „auf verschiedene mythologische Motive zurück, ähnlich, wie es Wagner gemacht hat, ohne dass sich sofort alles rational und logisch erschließt. All diese Ebenen und Elemente fügen sich erst im Kopf des Zuschauers zusammen.“ Und genau das ist das Problem der Inszenierung, dass Müller-Elmau zu viele Assoziationen bedient, und die Frage nach dem „Mythos“ am Ende unbeantwortet bleibt. Einerseits stellt er archaische Elemente in den Vordergrund, wenn Wotan beispielsweise einen toten Hirsch ausweidet und ihm das Herz aus dem Körper schneidet, um ihn später an Seilen zur Decke hochzuziehen. Andererseits lässt er während der Todesverkündigung Brünnhildes auf der schon aus dem Rheingold bekannten Weltenscheibe einen frühmittelalterlichen Christuskopf projizieren. Ein christliches Motiv in einer Szene, bei der über Walhall, Wotan und Hellas Heere gesprochen wird? Das passt einfach nicht. In der Walküre gibt es keine christlichen Motive oder Assoziationen, selbst ein mögliches und wagnertypisches Erlösungsmotiv ist hier nur rudimentär erkennbar und steht in keinem Kontext zur christlichen Welt, wie wir es in anderen Opern Wagners wie Lohengrin, Tannhäuser und Parsifal umso stärker finden.  Diese Aneinanderreihung loser Assoziationen ist die Schwäche der Inszenierung, die durch das Bühnenbild, das auch von Müller-Elmau stammt, und die Kostüme von Julia Kaschlinski nicht besser wird.

Hinzu kommt wieder der unsinnige Ansatz, das ganze Setting als museale Darbietung zu geben mit Besuchern, die das Geschehen auf der Bühne verfolgen, aber nicht in die Handlung eingreifen. Sie sollen die Menschen von heute repräsentieren, durch deren Präsenz die mythische Geschichte zum Leben erweckt wird. Dabei sollen die mythische, allgegenwärtige Zeit und die heutige, chronologische Zeit in Kontakt treten, was aber nicht wirklich funktioniert. Das war schon Bestandteil des Rheingold, in der Walküre aber nervt die ständige Präsenz der drei Zuschauer, teilweise verstärkt von einem Jungen, der hier wohl schon den jungen Siegfried darstellen soll und sich frech auf den Eschenstamm hockt, in dem Nothung, das Schwert auf Siegmund wartet. Ständig wechseln sie mit ihren Klappstühlen die Position, müssen auch schon mal den stürmischen Agitationen der Protagonisten ausweichen. Schon vor Beginn der Vorstellung sieht man eine Zuschauerin in einem alten Sessel sitzend in einem leeren grauen Raum, an der Wand über ihr ein Wolfskopf, was für eine Symbolik. Am anderen Ende des Raums steht ein alter Kühlschrank, auf ihm ein Farbfernseher aus den 1980-er Jahren, man erkennt Ausschnitte aus der Rheingold-Aufführung. Vielleicht muss sich die Museumsbesucherin die Aufführung des Rheingold noch einmal vor Augen führen, um das Geschehen auf der Bühne in der Walküre verstehen zu können.

Der dritte Aufzug mit dem Walkürenritt ist vom Setting auch wieder so ein Mix unterschiedlicher Assoziationen ohne klare Linie. Der leere Raum besteht aus Leinwänden, die blutverschmiert sind und am Ende der Szene von den Wänden fallen. Hermann Nitsch und seine „Aktionskunst“ bei der Walküre in Bayreuth 2021 lassen herzlich grüßen. Die acht Walküren auf Schaukeln, in „Baby-doll“-ähnlichen, blutverschmierten Kleidern und mit vielen Perücken, die sie nach und nach von sich werfen, sind nun auch nicht die große Idee. Das stärkste Bild ist dann noch das Schlussbild, wenn Brünnhilde, auf einem primitiven Holzstuhl sitzend, in einem auch schon aus dem Rheingold bekannten, durchsichtigen Kasten eingeschlossen wird.  Rotes Licht und viel Bühnennebel sollen den Feuerzauber assoziieren, den Müller-Elmau wenigstens nicht verweigert. Dabei hat die Inszenierung auch ihre Stärken, nämlich in der psychologischen Personenführung und der Beziehungsgeflechte untereinander. Die arbeitet Müller-Elmau hervorragend heraus. Wotan, der zornige und grimmige Wüterich, hat gegen Fricka, seine starke und dominierende Frau, keine Chance. Seinen Frust, seine Wut über sein eigenes Versagen lässt er an Brünnhilde aus. Selten ist der Vater-Tochter-Konflikt mit so vielen Facetten und Nuancen herausgearbeitet und in den Vordergrund gestellt worden. Auch die Dreiecksbeziehung zwischen Hunding, Sieglinde und Siegmund wird spannend erzählt, und die einzelnen Charaktere werden hervorragend dargestellt, auch aufgrund des sehr akzentuierten Spiels der Protagonisten.

Die Kostüme von Julia Kaschlinski sind zum größten Teil mehr als gewöhnungsbedürftig, insbesondere bei Brünnhilde. Ihr schwarzes, armloses, kurzes Kleid ist für die Sängerin mehr als unvorteilhaft, da muss man schon fast Mitleid haben. Eine korpulente Sängerin mit so einem Outfit auszustaffieren, das ist schon fast diskriminierend. Respekt vor Åsa Jäger, deren Darstellung der Brünnhilde nichts zu wünschen übriglässt. Siegmund mit rotem Kapuzenpullover und langem, schmutzigem Rock, für Kaschlinski eine Gestalt, die an einen Ritter erinnert. Allerdings fällt die Assoziation nicht leicht, Siegmund sieht eher aus wie ein Drogenjunkie denn als ein Ritter. Wotans Fellmantel aus dem Rheingold ist wieder da, etwas abgenutzter. Kein Gott, mehr ein archaischer Jäger, der auf Beutezug ist, ohne die sonst obligatorische Augenklappe. Hunding wiederum soll auch symbolisch gekleidet sein, dessen Kleidung an archaische Urvölker erinnern und der zugleich moderne Schuhe und eine Art Armeejacke trägt, die ihn als Anführer charakterisieren. Das Wolfsfutter der Jacke soll implizieren, dass er Wölfe und Wölflinge jage. Das ist eine etwas eindimensionale Charakterisierung Hundings. Das weiße, auch eher unvorteilhafte Nachtgewand der Sieglinde soll ihre Verletzlichkeit darstellen. Gut gelungen und durchaus effektvoll dagegen die Lichtregie von Markus Stretz, der viel Atmosphäre und Emotionen einfängt und die eine oder andere unglückliche Szene wiederum zum Vorteil ausleuchtet.  Insgesamt muss man Alexander Müller-Elmau zugutehalten, dass er nicht am Werk vorbeiinszeniert oder es gegen den Strich gebürstet hat, wohltuend in einer Zeit destruktiver Ring-Inszenierungen, wie wir sie jüngst in Bayreuth und Berlin erlebt haben.

Musikalisch und sängerisch ist der Abend dafür beeindruckend. Allen voran Michael Lion als Wotan, der schon im Rheingold ein überzeugendes Rollendebüt gab. Sein Wotan ist sehr akzentuiert, mit schönem, warmem Bariton, vielen Farben und sauberer Deklamation. Auch spielerisch zeigt er die Zerrissenheit zwischen herrischem Gott und liebendem Vater. Sein musikalischer Ausdruck aber ist der eines ganz Großen, und sein berührender Abschied von Brünnhilde Leb wohl, du kühnes herrliches Kind vielleicht der emotionalste Moment des Abends. Mit dieser Leistung ist Lion auch ein veritabler Wotan-Kandidat für größere Häuser. Das gilt auch uneingeschränkt für Åsa Jäger in der Rolle der Brünnhilde. Ihre noch junge und unverbrauchte Stimme, noch nicht hochdramatisch, und ihr emotionales Spiel zeigen eine selbstbewusste junge Frau, die sich gegen den göttlichen Willen ihres Vaters auflehnt und ihn moralisch besiegt. Mit strahlenden Höhen und großer Textverständlichkeit zeigt sie an diesem Abend eine herausragende Leistung. Jessica Stavros als Sieglinde ist wie Jäger ein jugendlich-dramatischer Sopran, frisch und unverbraucht. Sie hat eine sehr warme Mittellage und gleichzeitig expressive, leuchtende Höhen. Ihre Textverständlichkeit ist in der heutigen Zeit fast schon eine Ausnahme. Auch sie setzt das gefühlsbetonte Spiel eindrucksvoll um mit dem Höhepunkt im dritten Aufzug mit O hehrstes Wunder. Roman Payer als Siegmund zeigt ebenfalls eine herausragende Leistung. Er verfügt über eine schöne baritonale Mittellage, die in den lyrischen Stellen wunderbar klingt. Die dramatischen Höhen seines Heldentenors singt er mit Stahl und leuchtendem Glanz, den Atem bei den beiden Wälserufen hält er eine gefühlte Ewigkeit. Der junge Bartosz Araszkiewicz überzeugt mit tiefschwarzem Bass und grimmigem Spiel, allerdings mit etwas zu starkem Akzent, da muss er noch an sich arbeiten. Die Mezzosopranistin Kora Pavelić weiß in der Doppelrolle als Fricka und Schwertleite mit klarem, akzentuiertem Ausdruck und starkem Spiel zu begeistern. Bei den acht Walküren, bei denen Christiane Kohl ganz kurzfristig für die erkrankte Anne-Fleur Werner als Helmwige eingesprungen ist, halten sich Licht und Schatten die Waage.

Das Philharmonische Orchester des Landestheaters Coburg weiß auch an diesem Abend trotz der eingeschränkten Möglichkeiten durchaus zu überzeugen. Natürlich hat Coburg nicht das von Wagner vorgesehene 123-Mann-starke Orchester, und hätte dafür im Graben auch gar keinen Platz. Im Rheingold wurde die sogenannte Coburger Fassung für 40 Musiker, die mit Basstrompete und Wagnertuba modifiziert wurde, gespielt. An diesem Abend gibt es die Fassung von Gotthold Ephraim Lessing, nicht identisch oder verwandt mit dem großen deutschen Dichter, der von 1933 bis 1935 Erster Kapellmeister in Coburg war und eine orchestral reduzierte Fassung und Bearbeitung des Werks erstellt hat. Zwar vermisst man die eine oder andere Differenziertheit im klanglichen Ausdruck, insgesamt ist die Fassung aber für ein kleines Haus wie Coburg ideal. Daniel Carter zeigt, dass er seinen eigenen Stil hat, insbesondere in der Tempogestaltung und in der Phrasierung. Er arbeitet schöne Farben und Nuancen heraus, wechselt klug die Tempi und dirigiert sowohl einen kraftvollen Walkürenritt als auch einen ausdrucksstarken Schluss mit Wotans Abschied und dem Feuerzauber. Das Philharmonische Orchester des Landestheaters Coburg folgt dem Gestus des jungen Dirigenten, arbeitet die Leitmotive klug heraus. Eine insgesamt überzeugende Vorstellung.

Am Schluss gibt es großen Applaus im leider nur zu einem Drittel gefüllten Coburger Landestheater für das gesamte Ensemble, besonders Michael Lion als Wotan und Åsa Jäger als Brünnhilde werden umjubelt. Großer Jubel auch für Daniel Carter und sein Orchester. Die Vorfreude auf den Siegfried im kommenden Jahr ist angesichts der bisher gezeigten Inszenierungen eher gedämpft, da davon auszugehen ist, dass Alexander Müller-Elmau sein Konzept zwischen Museum und Mythos beibehalten wird, und den Zuschauer wohl nichts wirklich Neues oder Aufregendes erwarten wird. Allerdings ist die musikalische und sängerische Darbietung des Ensembles es wert, sich den Siegfried anzuschauen. Premiere ist am 12. März 2023 am Landestheater Coburg, kurz bevor es die Pforten für längere Zeiten schließt.

Andreas H. Hölscher