O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bildschirmfoto

Aktuelle Aufführungen

Der gemeinsame Weg durch die Krise

LISTENING TO THE CHANGE
(Diverse Komponisten)

Gesehen am
14. März 2021
(Premiere/Stream)

 

Klarafestival, Gretchen, Berlin

Seit einem Jahr versucht das Publikum, mit dem künstlerischen Auftrittsverbot auf öffentlichen Bühnen umzugehen. Die Wege sind höchst unterschiedlich. Da gibt es welche, die schmollen und fangen an zu stricken, während sie klassische Musik auf der heimischen Stereoanlage hören. Andere haben sich aus Trotz den Fernsehsendern hingegeben, die vorwiegend Serien zeigen, und der Kultur abgeschworen. Wieder andere beschweren sich über die schlechte Aufnahmequalität der alten Opernaufzeichnungen, die sie sich aber anschauen, weil ihnen sonst nichts einfällt. Und dann gibt es die, die die Zeit der Isolation als Chance nutzen, sich auf Internetpfaden auf die Suche nach neuen Angeboten begeben. Und da existiert ja in der Tat einiges, was es zu entdecken gilt.

Ein schönes Beispiel dafür ist das Klarafestival. 2004 vom Festival van Vlaanderen Brüssel gegründet, ist es heute nach eigenen Angaben das größte Festival für klassische Musik in Belgien. Klara? Bei Klassikliebhabern, die gern in den Benelux-Ländern urlauben, klingelt da was. Exakt, das ist das Klassikprogramm des Senders Vlaamse Radio- en Televisieomroep, das es seit Dezember 2000 gibt und das man nach Grenzübertritt sofort im Autoradio einstellt. Klara steht für Klassisches Radio und hat den Anspruch, möglichst viele Menschen mit klassischer Musik zu erreichen, was bei der Auswahl auch sehr gut gelingt. Es ist der wichtigste Partner des Klarafestivals und überträgt das komplette Programm. Was in diesem Jahr erstmals an Bedeutung verlieren könnte. Denn auch das Klarafestival ist in diesem Jahr online gegangen.

Das Festival, das in diesem Jahr vom 13. bis zum 22. März stattfindet, besteht im Kern aus Live-Konzerten mit dem Schwerpunkt des großen romantischen Repertoires. Ausdrücklich werden aber auch Brücken zu anderen Disziplinen und Genres gesucht. Und was normalerweise in den Konzertsälen – auch schon mal an ausgefallenen Spielstätten – von Brüssel und Antwerpen hautnah vom Publikum erlebt werden kann, wird in diesem Jahr unter dem Motto „Es ist noch nicht alles verloren“ mit großem Aufwand ins Netz gehoben.

Bildschirmfoto

Da kann sich so mancher deutsche Kulturanbieter ein Beispiel nehmen. Hier wird das Publikum nicht als lästige Begleiterscheinung gesehen, sondern sehr ernst genommen. Die Website des Festivals ist die zentrale Plattform. Hier findet der Besucher alle Informationen, die er sich nur wünschen kann. Hier muss man kein Internetspezialist oder YouTube-Profi sein, um zur gewünschten Übertragung zu kommen. Wer mit der allgemeinen Anleitung nicht zurechtkommt, kann gleich zu Detailinformationen weiterklicken. Ausführlich wird geschildert, wo und wie man die einzelnen Auftritte des Festivals sehen und hören kann. Das Ganze ist absolut besucherfreundlich gemacht. Und wer sich eingefunden hat, überspringt die Einleitung rasch und geht auf die Seite, auf der das Konzert übertragen wird. Dort gibt es das Video, aber auch umfangreiche Informationen zu den Künstlern und zum Programm. Auf Flämisch? Ja, selbstverständlich. Und auf Englisch und Französisch, ist doch klar. Gleichzeitig wird das Übersetzungsprogramm eines Internetanbieters aktiviert, so dass auch Deutsch kein Problem ist. Nein, das sind keine perfekten Übersetzungen, aber es geht hier ja auch nicht um einen Literaturwettbewerb. Man versteht, was da steht, und es gibt durchaus auch Gelegenheit zum Schmunzeln.

Das Programm des Festivals geht wirklich quer durch die Kultur, ohne dass man das Gefühl der Beliebigkeit vermittelt bekommt. Gern möchte man sich auf dieses Kaleidoskop einlassen: Debatte, Installation, Wagner, Strauss, Minimal Music, Gegenwartsmusik, Piazzolla – nein, die Verantwortlichen lassen sich nicht von tradierten Grenzen beeindrucken, sondern versprechen eine Zeit geistigen Genusses, ohne die Unterhaltung mit dem moralischen Zeigefinger zu unterdrücken. Am zweiten Tag des Festivals sind Mitglieder des Stegreiforchesters zu Gast. Ja, richtig, das Stegreiforchester aus Berlin, das sich 2015 unter der künstlerischen Leitung von Juri de Marco gegründet hat und seither mit einem Pool rund 30 junger Musiker versucht, neue Wege im Konzert zu gehen. Hier werden Partituren alter Meister nicht als Handlungsvorschriften, sondern als Ideenvorlage verwertet und damit sind Improvisationen das Salz in der Suppe ihrer Auftritte. Dirigenten sind nach ihrer Auffassung nette Kollegen, haben aber bei ihren Auftritten nichts verloren. Und öde rumsitzen können nach ihrer Ansicht Musiker, die bei staatlich geförderten Orchestern untergekommen sind. Kriegen ja auch mehr Geld und können sich so einen Stuhl leisten. Bei O-Ton sind sie ausführlich zum ersten Mal anlässlich des letztjährigen Düsseldorf-Festivals in Erscheinung getreten. Eine unkonventionelle Truppe mit guten Ideen also, die daher bestens zum Klarafestival zu passen scheinen.

Bildschirmfoto

Also haben die Brüsseler die Berliner zum Interview gebeten. Auf der Basis dieser Gespräche drehten die Berliner den Spieß um und entwickelten improvisatorische Kompositionen für ein Konzert, das heute Abend – nach Angaben des Veranstalters live – aus dem Gretchen, einem Club im Stadtteil Kreuzberg, aufgeführt wird. Dass es sich tatsächlich um einen Live-Auftritt handelt, möchte man bei den Bildern von Regisseurin Viola Schmitzer kaum glauben. Laufen die Musiker doch zwischen den Stücken schon mal durch die Bar, zeigen die dunklen Ecken, aber auch die Bar, wo es hochgeistige Getränke für den Klarinettisten gibt, der reichlich zuspricht und auch keine Angst vor politisch völlig unkorrektem Zigarettengenuss hat. Herrlich. Es ist nicht der einzige Spaß des Abends.

Sitzen darf natürlich Hiromu Seifert, weil der Schlagzeug und Synthesizer bedient. Sitzen darf zudem, zumindest zeitweise, Julia Biłat mit ihrem Cello. Aber damit hat es sich auch. Anne-Sophie Bereuter bespielt ihre Geige im Stehen, schon, weil es sich in den Spielpausen gern auch ein wenig tanzen lässt. Auch Alistair Duncan gibt Anlass zu großartigen Bildern, wenn er stehend die Posaune erklingen lässt. Und Nikola Djurica würde auf einem Stuhl mit seiner Klarinette vermutlich Platzangst bekommen. Beeindruckend genug, dass er es auf einem Barhocker aushält – das aber eigentlich ausführlich und gut.

Die Musik dieses Abends bringt die Vorstellungen der Musiker zum Ausdruck, hat doch ein jeder ein eigenes Stück für die Aufführung arrangiert und komponiert. Da reicht das Spektrum vom Volkslied über den Jazz, die neue Musik bis zum Klezmer. Das wichtigste Stück ist vermutlich das letzte, denn das befasst sich im besten Sinn mit einem Werk Ludwig van Beethovens, das wie kaum ein anderes für Europa steht. Die Ode an die Freude wird hier mannigfaltig interpretiert, improvisiert und gedeutet. Aber ehe Puristen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, sei angemerkt, dass es auch hier nur um die Ideenvorlage geht, um den Geist des Stücks. Und die Frage: Was hat das mit uns hier und heute zu tun? Und dann wird relativ schnell klar, dass mit diesen alten Noten alles erlaubt ist, wenn sie uns einen, einen gemeinsamen Weg durch die Krise zu finden. Das zumindest finden die Musiker, die sich aus vieler Herren Länder zusammengefunden haben, um gemeinsam auf höchstem Niveau zu musizieren.

Maximilian Feldmann hat zwar erhebliche Schwierigkeiten, mit seiner Kamera das Geschehen zwischen Mikrofonstativen und Säulen einzufangen, schlägt sich aber ideenreich und tapfer. Und Sascha Kramski bringt einen wirklich eindrucksvollen Klang auf die heimischen Lautsprecher. Nach einer knappen Stunde verabschieden sich die Musiker, nicht ohne eine hervorragende Visitenkarte für das Festival abgegeben zu haben. Da darf man sich auf die weiteren Aufführungen freuen. Und selbstverständlich können die Aufführungen auch noch als Video on Demand nacherlebt werden. Wenn das Klarafestival auf diesem Niveau weitermacht, wird das digitale Fest zur großen Chance für die Macher aus Brüssel. Chapeau!

Michael S. Zerban