O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Maskentheater

#BFREE
(Stegreif.Orchester)

Besuch am
15. September 2020
(Uraufführung)

 

Mitsubishi Electric Halle, Düsseldorf

Die Erfahrungen der letzten Wochen zeigen: Festivals und Theaterhäuser gehen zumeist ausgesprochen verantwortungsvoll mit der Corona-Krise um. So wie auch das Düsseldorf-Festival, das am 7. September begonnen hat. Dabei treffen sie auf ein hochdiszipliniertes Publikum. Und deshalb soll hier auch nicht weiter die Rede vom Virus sein, sondern von dem, worauf es ankommt: der Kunst.

Eigentlich findet das Düsseldorf-Festival alljährlich in einem großen Zelt auf dem Burgplatz in der Altstadt Düsseldorfs statt. Das hatte sich, nachdem das Festival komplett durchgeplant war, im März erledigt. Aber Christiane Oxenfort und Andreas Dahmen, die beiden Künstlerischen Leiter des Festivals, nahmen das nicht hin. In Kooperation mit Dlive, der Gesellschaft, die für die öffentlichen Veranstaltungsräume in Düsseldorf zuständig ist, erstellten sie binnen kürzester Zeit einen Ersatzspielplan. Der Hauptspielort wurde in die Mitsubishi Electric Halle im Düsseldorfer Stadtteil Bilk verlegt, einst der hauptsächliche Veranstaltungsort für Konzerte und ähnliche Veranstaltungen in der Landeshauptstadt. Als Philippshalle war sie bei den Bürgern der Stadt außerordentlich beliebt. Zumal sie über einen Parkplatz verfügte, auf dem man sich für kleines Geld einfinden konnte. Heute ist auch das kommerzialisiert, und man zahlt für einen Parkplatz satte sieben Euro, wenn man eine Abendveranstaltung besuchen möchte. Wer hier von einem zweiten Eintrittspreis spricht, liegt sicher nicht ganz falsch.

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Trotzdem sind Dahmen und Oxenfort überglücklich über die Unterstützung von Dlive, weil die städtische Gesellschaft nicht nur für die Sicherheit der Besucher sorgt, sondern in erster Linie einen Veranstaltungsort bietet, an dem ein komplettes Festival stattfinden kann. Und so steht an diesem Abend ein ganz besonderes Konzert an. Das Stegreif.Orchester aus München hat sich angekündigt. 2015 gegründet, haben sich die jungen Musiker zum Ziel gesetzt, einen modernen Zugang zur klassischen Musik zu bieten. Da gibt es keine Partituren auf Pulten, die die Musiker voneinander trennen, keinen Dirigenten, der ein ordentlich sortiertes Orchester unter seiner Fuchtel hat, und vor allem gibt es keine Bewegungseinschränkung. So war es im Vorfeld zu hören. Nun hört man ja von vielen jungen Musikern, dass sie von neuen Konzertformaten träumen. Im Endergebnis geht das oft eher mau aus.

In der Mitsubishi Electric Halle bleiben an diesem Abend viele Plätze frei. Aber viele Enthusiasten sind gekommen, die bereits vom Stegreif.Orchester gehört haben. Wie sehen ungewöhnliche Konzertformate aus? Wie benimmt sich ein Orchester, das allen Traditionen abschwört? Und – ganz nebenbei – wie hört sich eine Musik an, die Beethovens Neunte Symphonie zur Grundlage hat, in die sich Volkslieder mischen? Eine Uraufführung wird es, verrät Oxenfort, die wie immer die Gäste begrüßt.

26 Musiker betreten die Bühne, auf der lediglich ein paar Mikrofone, Stühle und zwei Schlagwerke aufgebaut sind. Die Gesichter der Instrumentalisten sind mit Wollmasken vermummt. Die Masken werden zum running gag während der nächsten anderthalb Stunden. Das Orchester, zu dessen Grundprinzipien gehört, sich während der Aufführung auf der Bühne, im Saal und auf den Rängen zu bewegen, muss sich heute auf Bühne und Vorbühne beschränken. Spannender als die Gänge zur Vorbühne oder die Freistellung der Solisten sind allerdings noch die tableaux vivants, in der nur noch wenige Instrumente zu hören sind, während die untätigen Musiker „einfrieren“. Da entstehen eindrucksvolle, fast schon museale Bilder. Hinzu kommen „Kostümwechsel“, wenn die jungen Leute beispielsweise ihre schwarzen Oberteile ablegen und darunter rote und graue T-Shirts zum Vorschein kommen.

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Ja, es gelingt dem Stegreif.Orchester, die Konzertroutine zu durchbrechen. Das wirkt lebendig, jugendlich und stellt einzelne Musiker in den Vordergrund. Dass die Musiker hier einiges mehr an Leistung bringen müssen, ist ebenfalls klar. Die reine Konzentration auf das Instrument wird geschmälert, ohne damit die Gesamtleistung des Orchesters reduzieren zu dürfen. Auch wenn nicht immer ihre Motivation deutlich wird, warum beispielsweise der Cellist mit seinem Instrument auf dem Kopf auf der Vorbühne herumturnen oder die Geigerin sich ebenda mit übergezogener Maske totstellen muss, empfindet der Zuschauer das grundsätzlich im Wortsinn als Belebung des Raumes. Gleichzeitig nimmt er die Musik nur noch als Teil eines Gesamtgeschehens wahr. Puristen mögen das Hin und Her auf der Bühne als störend empfinden, als Einzelerlebnis, als Versuch, Musik lebendiger darzustellen, ist es aber sicher ein Erlebnis.

Grenzen wollen die Musiker auch in der Musik selbst sprengen. Und da kommt als erstes gleich mal eine E-Gitarre mit auf die Bühne. Dass hier die Neunte Beethovens und europäische Volkslieder intoniert werden, mag allenfalls ein Musikwissenschaftler anhand der hier nicht vorhandenen Partituren erkennen. Ansonsten entsteht eine völlig neue Musik, aus der allenfalls noch Zitate herauszuhören sind. Andererseits bleiben so die Ausflüge in Dissonanzen und Atonalität überschaubar, werden bereichert um Anklänge aus anderen Musikgenres. Dem Zuhörer bleibt auch keine andere Wahl, als die Klangwelten hinzunehmen, denn eine Kommunikation darüber, wer etwa für die Arrangements oder Neukomposition verantwortlich ist oder welche Zutaten im Einzelnen Bestandteile des Ganzen sind, findet nicht statt. Und so verwischen auch die Grenzen zwischen Zitaten und Improvisationen. Ein wahrhaft neues Hörerlebnis.

Das Publikum findet es großartig. Kaum ist der letzte Akkord verklungen, reißt es die Besucher von den Stühlen und veranlasst sie zu Bravo-Rufen. Einmal mehr ist es dem Düsseldorf-Festival gelungen, seinem Publikum etwas zu bieten, dass es so in seiner Stadt noch nicht erlebt hat. Trotzdem steht der krönende Abschluss noch bevor: Sich nach dem Konzert vor der Tür den feuchten Lappen vom Gesicht ziehen zu können und die frische Abendluft in die Lungen strömen zu spüren.

Michael S. Zerban