O-Ton

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Moers-Festival 2020

Neue Routine

Am zweiten Festival-Tag ist in der Halle so etwas wie routinierte Ruhe und auch ein wenig Ungehorsam eingezogen. Die Menschen an den Bildschirmen halten sich mit der gewünschten Interaktion arg zurück. Und wie die Aktivitäten des Festivals in der Stadt angenommen werden, muss sich erst noch zeigen.

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Bleierne Stille lastet auf dem Parkplatz vor Eishalle, Eventhalle und Schwimmbad. Da, wo in anderen Jahren das Festival-Dorf ein buntes Treiben beherbergte, stehen jetzt Autos. Nur wenig deutet darauf hin, dass an diesem Ort überaus etwas stattfindet. Selbst in der Eishalle, die zu Festival-Zeiten als Catering-Platz, Rückzugsort für die Künstler und Pressezentrum dient, ist erstaunlich wenig los. Die Journalisten werden jetzt, am zweiten Tag, dazu verpflichtet, Meldezettel auszufüllen. Als ob hier ein Presse-Vertreter vorbeikäme, der sich nicht im Vorfeld angemeldet hätte und also dessen Adresse längst bekannt wäre. Es lebe die deutsche Gründlichkeit. Mit New Ways to Fly, dem diesjährigen Festival-Motto, hat das weniger zu tun. Der Hang des Deutschen zum Formular ist wohl so alt wie Deutschland selbst.

In der Halle selbst herrscht am Nachmittag entspanntes Treiben. Von Miss UniMoers ist nichts mehr zu sehen außer ein paar Projektionen. Das Spannendste ist der Moment, wenn die Sendeleiterin das Signal zum Beginn des Auftritts gibt. Die Fotografen verfallen in alte Muster und kommen gar nicht dicht genug mit ihren Tele-Objektiven an die ebenerdige Bühne heran. Offenbar müssen zwanghaft auch die Nasenhaare der Schlagzeuger noch im Bild erkennbar sein. Auch der Rüffel des Aufnahmeleiters nach dem ersten Auftritt hilft nur kurzzeitig.

Den musikalischen Auftakt gestalten debacker – zwißler – hübsch – nilesen. Die in Belgien geborene Marlies Debacker hat sich nach ihrem Studium in Köln und Essen auf das zeitgenössische Klavier mit all seinen Spielarten kapriziert, gern, wie auch in Moers, ergänzt um Keyboards. Dabei zieht sie sich auf puristische Klänge und Akkorde zurück, die sich ideal in die 40-minütige Improvisation der Band einfügen.

In den Pausen werden sämtliche Außentüren geöffnet, um so für Belüftung zu sorgen. Ob das irgendeinen Effekt auf ein möglicherweise vorhandenes Virus hat, weiß niemand, aber tatsächlich scheinen die Infektionen in geschlossenen Räumen mit vielen Menschen häufiger aufzutreten als an der frischen Luft. Nicht von ungefähr gibt es geflügelte Wort von der frischen Luft, die noch niemandem geschadet habe.

Erfrischend ist auch das 20-minütige Improvisationssolo von Wolfgang Puschnig, der mit Saxofon und Querflöte sein Moers Revisited intoniert. Man darf den Mann wohl getrost als Legende des österreichischen Jazz bezeichnen. Lässt er in der Green Box zunächst tonlos die Luft ins Saxofon strömen – so wird er beispielsweise auf das Kitz projiziert, was aber mehr Gimmick als sinnstiftende Idee ist – bedient er beide Instrumente auf der Kleinen Bühne in gewohnter Perfektion. Auf dem Festival gehört er zu den wenigen, die zeigen, dass Improvisationen auch gelingen können, ohne das Instrument zweckzuentfremden.

In der nächsten Belüftungspause baut das Ensemble Ventil seine Instrumente auf der Großen Bühne auf. Im Vordergrund der Gruppierung steht Ute Wassermann, die der menschlichen Stimme immer wieder ungewöhnliche Aspekte entlockt und diese mit Vogelpfeifen verstärkt. Im Zusammenklang mit Erhard Hirt, Stefan Keune, Hans Schneider und Birgit Uhler entsteht hier in 45 Minuten ein meditativer Klang, der zwar die Fotografen nicht interessiert, die sich folgerichtig verkrümeln, aber zum ersten Mal vergessen lassen, dass hier lediglich ein Konzert aufgezeichnet wird.

Wenn man in diesen Tagen eines lernen kann, dann ist es die Bedeutung des Publikums durch seine Abwesenheit. Und umso zwingender wird die Notwendigkeit, die Konzert- und Theatersäle wieder zu öffnen. In Nordrhein-Westfalen lassen die Tonhalle Düsseldorf, die Kölner Philharmonie, das Konzerthaus Dortmund und die Philharmonie Essen in diesen Tagen zaghaft wieder Miniatur-Publika in die Säle. Auf die Wirkung solcher Maßnahmen will sich aber niemand so recht verlassen und so scheint sich das Hybrid-Modell bei allen Institutionen zu etablieren: Ein paar Menschen dürfen in die Konzertsäle, der Rest bekommt Gelegenheit, das Geschehen im Internet mitzuverfolgen. Ein Begriff, den man sich nicht zu merken braucht, denn er wird uns wohl noch lange begleiten.

Inwieweit die Bürger von Moers in diesem Jahr das Festival, das sonst das Geschehen in der Stadt am Pfingstwochenende bestimmt, zur Kenntnis nehmen, bleibt unklar. Aber Tim Isfort und sein Team haben Möglichkeiten geschaffen, dass man das Festival auch unter freiem Himmel wahrnehmen kann. So gibt es an allen vier Tagen ein kleines Programm mit Solo-Einlagen und Trio-Auftritten am Schloss und im Park. Und während das zweite Parkkonzert am frühen Abend sein Ende findet, können die Zuschauer an den Bildschirmen die Aufzeichnungen aus der Eventhalle noch bis spät in die Nacht hineinverfolgen.

Michael S. Zerban