O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Estelle Hanania

Ruhrtriennale 2021

Psychogramme zerstörter Seelen

L’ÉTANG/DER TEICH
(Robert Walser, Gisèle Vienne)

Besuch am
18. August 2021
(Premiere)

 

Ruhrtriennale, Pact Zollverein, Essen

Einblicke in zerstörte Familien und Seelen scheinen sich wie ein roter Faden durch die aktuelle Saison der Ruhrtriennale zu ziehen. Nach den aufwändigen Auftakt-Produktionen mit Barbara Freys asketisch-strenger Umsetzung von Edgar Allan Poes Kurzgeschichte Der Untergang des Hauses Usher und Olga Neuwirths Oper Bählamms Fest zum Libretto von Elfriede Jelinek geht die französische Choreografin, Regisseurin und Puppenspielerin Gisèle Vienne das Thema im Essener PACT Zollverein noch konzentrierter und pointierter an. Gerade durch den Einsatz bescheidener, reduzierter Mittel und den Verzicht auf jeden ablenkenden Mummenschanz und jede kopflastige Überhöhung hinterlässt die Produktion den bisher stärksten Eindruck. Wobei sich Gisèle Vienne allerdings auch auf zwei begnadete Schauspielerinnen verlassen kann und angesichts der handlungsarmen Textur auch verlassen muss.

Die Grundlage ihrer Kreation ist Robert Walsers 1902 entstandenes, autobiografisch gefärbtes Theaterstück Der Teich, in dem ein von seiner Mutter und der ganzen Familie vernachlässigter Junge seinen Selbstmord vortäuscht, um die vermisste Aufmerksamkeit und Liebe seiner Mutter zu erzwingen. Ein Text, den Walser bewusst im Berner Dialekt verfasst hat, der von Gisèle Vienne ins Französische übertragen wurde und mit deutschen und englischen Untertiteln verständlich bleibt.

Gisèle Vienne – Foto © Karen Paulina Biswell

Gisèle Vienne kommt mit zwei Personen aus, die nicht nur die Rollen des Sohnes und seiner Mutter darstellen, sondern auch die Texte der Geschwister und des Vaters sprechen. Wobei die Texte nur als Verständnishilfe dienen dürften. Die bestechende Leistung der Produktion liegt in der körperlichen Darstellung der Seelenzwänge, die den beiden Schauspielerinnen Adèle Haenel und Ruth Vega Fernandez ein fast übermenschliches Maß an mentaler und physischer Konzentration und Kondition abverlangt.

In unerbittlicher Langsamkeit und schonungsloser Präzision drücken die Darsteller die inneren Spannungen der Figuren hauptsächlich durch ihre Körpersprache aus, verharren minutenlang in unbequemen Positionen, rezitieren gleichzeitig die Texte verschiedener Rollen. Leise, völlig entschleunigt, ohne die geringste klischeehafte Theaterpose oder verkrampfte Übertreibung. Man wird gezwungen, die inneren Qualen der Menschen in rücksichtloser Ausführlichkeit ertragen zu müssen. Menschen, die in einer schlichten, mit wechselnden Farben ausgeleuchteten Schachtel hausen. Bis auf ein Bett in einem leeren, gesichts- und heimatlosen Zuhause, so distanziert wie die Gefühle der Mutter gegenüber dem vernachlässigten Sohn. Eine distanzierte Kühle, die Vienne mit einem überraschenden Eingangs-Tableau ankündigt. Die Puppenspielerin und -bauerin Vienne drapiert die Bühne mit lebensechten, aber gefühllosen Puppen. Stellvertretend für die Mitglieder der Familie, die nach und nach von der Bühne getragen werden, bis die Schauspielerinnen das Stück eröffnen.

Kreißende elektronische Klänge von Stephen O-Mally intensivieren die schmerzhaften Einstiche in die verletzte Seele des Jungen zusätzlich. Grandios, wie nachdrücklich und dennoch unangestrengt natürlich die Theater- und filmerfahrenen jungen Schauspielerinnen dieses komplexe und kräftezehrende Psychogramm zum Ausdruck bringen. Adèle Haenel in der Rolle des verlorenen Sohnes, die eigene Missbrauchserfahrungen einbringen kann und einst vehement gegen eine Preisverleihung an Roman Polanski protestiert hat. An ihrer Seite die Ruth Vega Fernandez, die die komplexe Seelenlage der Mutter von eisiger Ablehnung bis zu schmerzhaften Gewissensbissen suggestiv und glaubhaft darstellt.

Eine kleine, an Überzeugungskraft und kreativer Energie die großen Projekte der Ruhrtriennale überragende Produktion, die vom Premieren-Publikum entsprechend begeistert gefeiert wird.

Pedro Obiera