Kulturmagazin mit Charakter
Düsseldorf-Festival 2024
THE MIRROR
(Gravity & Other Myths)
Besuch am
19. September 2024
(Premiere)
2009 wurde die Gruppe Gravity & Other Myths im australischen Adelaide von ortsansässigen Artisten mit einer Leidenschaft für zeitgenössischen Zirkus und Physical Theatre gegründet. Seither ist die Kompanie kontinuierlich gewachsen und hat inzwischen zehn abendfüllende Werke kreiert. Was für den Laien in dreizehn Jahren erst mal nicht so überwältigend viel klingt. Tatsächlich werden solche Produktionen akribisch und mit großem Aufwand erarbeitet, ehe sie nach Möglichkeit weltweit vermarktet werden. Da sind zwei Jahre wie nichts verflogen. Mit der vorletzten Produktion The Mirror – Der Spiegel – ist die Kompanie seit 2022 neben einer Tournee in Kanada und Engagements in Sydney und Prag bereits zwei Mal im Berliner Chamäleon-Theater aufgetreten. Schön für die Artisten: Die Kompanie bleibt immer für mehrere Tage an einem Ort, in Berlin waren es sogar zweieinhalb und vier Monate. Da gibt es tatsächlich dann auch mal die Möglichkeit, eine Stadt näher kennenzulernen, anstatt nur die Hotelzimmer für ein paar Stunden Schlaf zu erleben. Auch in Düsseldorf, wohin das Düsseldorf-Festival die Akrobaten zur NRW-Premiere eingeladen hat, wird Gravity & Other Myths vier Tage bleiben.
Dem Besucherandrang am Premierenabend zufolge hat sich die Qualität der Kompanie auch in Deutschland herumgesprochen. Im Theaterzelt am Burgplatz bleibt jedenfalls kaum ein Platz frei. Wer in der Vorstellung hergekommen ist, so etwas wie ein Spiegelkabinett zu erleben, wie man es von Jahrmärkten kennt, wird enttäuscht werden. Tatsächlich kommt Regisseur Darcy Grant ohne jeden Spiegel auf der Bühne aus. Vielmehr bezieht sich der Titel auf eine Filmtechnik, die hier in Projektionen verwendet wird. Dabei wird das Bild unendlich im Bild gespiegelt. Statt Spiegeln gibt es an diesem Abend Überraschungen. Die prasseln förmlich auf den Besucher ein. Und das fängt schon mal damit an, dass man zu Beginn der Aufführung einen Kassettenrekorder mit Radioempfänger bewundern kann, der mitten auf der Bühne vor schwarzen Vorhängen aufgestellt ist. Wo bekommt man ein solches Schätzchen heute noch her? Für Sängerin Megan Drury ein willkommenes Requisit, mit dem sie, in Dessous unter einem Bademantel den Anfang macht. Matt Adey ist für Bühne und Licht verantwortlich. Und seine Ideen bestechen. Er hat auf der Bühne Zwischenvorhänge aufhängen lassen. Während Drury den Sendesuchlauf ausprobiert, werden die Vorhänge jedes Mal dann verschoben, wenn sie wieder einen Sender gefunden hat. Dann tauchen Personen in den verschiedensten Konstellationen bis hin zu einer ersten Pyramide auf. So wird bereits in den ersten Minuten Spannung aufgebaut, ehe noch wirklich Spektakuläres passiert. Adey sorgt dafür, dass die Artisten nicht im Dunkel absaufen, hat für die Guckkastenbühne einen Lichterrahmen geschaffen, aus dem Neonröhren ausgebaut und auf der Bühne verwendet werden, etwa, um die Sängerin als Diva ins rechte Licht zu setzen.
Ekrem Eli Phoenix hat die Musik, die Drury präsentiert, komponiert oder zumindest arrangiert. Sprich: Drury liefert komplett neue Interpretationen bekannter Schlager wie Summertime, die so bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind. Zwischen Wiedererkennungswert und neuen emotionalen Welten ist hier alles drin. Später wird das, passend zum Finale, zu Medleys kulminiert.
In dem musikalischen Rahmen pulsiert das akrobatische Geschehen. Es dauert eine Weile, bis man überhaupt erkennt, dass gerade mal acht Artisten für atemberaubende Bewegung sorgen: Isabel Estrella, Emily Gare, Leann Gingras, Hamish McCourty, Lewis Rankin, Nedav Sedlik, Maya Tregonning und Ashley Youren gelingt, die Zuschauer immer wieder Nervenkitzel spüren zu lassen. Dreistufige Pyramiden, Sprünge, die scheinbar ins Nichts führen oder auf der zweiten Ebene stattfinden, also über den Köpfen der Akrobaten oder eine Pyramide über Minuten sind nur einige der Figuren, die die Zuschauer auf die Stuhlkante treiben und immer wieder für Zwischenapplaus sorgen. Dass auch mal eine Figur wie ein Sprung oder ein Pyramidenaufstieg schiefgeht, wird hier zum Ereignis. Darf man doch erleben, wie die Artisten nicht etwa zu Boden stürzen, sondern die Aktion elegant und verletzungsfrei abbrechen. Renate Henschke hat die Kostüme entworfen, die mitunter viel nackte Haut – und vor allem die Muskulatur der Artisten – zeigen und permanent gewechselt werden, als seien die gezeigten Kunststücke nicht schweißtreibend genug.
In der weiteren Entwicklung tauchen LED-Rahmen auf der Bühne auf, entweder ausschließlich als Rahmen, der durchschritten werden kann, oder als Projektionsfläche, die das Geschehen um eine zusätzliche Ebene erweitert. Ganz nebenbei darf man sich da noch von modernster Technik faszinieren lassen, wenn Smartphones genutzt werden, um Sängerin und Artisten in Nahaufnahme als – teils verfremdete – Projektion zu zeigen. Das ist großartig und stimmig eingerichtet, unterstreicht eine grandiose Aufführung, in der sich die Künstler, ganz, wie Grant es sich vorstellt, sichtbar verausgaben.
Nach 80 Minuten dürfen sich die Artisten überbordend feiern lassen. Solch aufregende Momente wie an diesem Abend erlebt man selbst beim Düsseldorf-Festival im Theaterzelt selten. Und die nette Geste am Schluss genauso: Da eilen drei der Künstler zum Ausgang, um sich von ihrem Publikum zu verabschieden.
Am 20. und 21. September kann man die fantastischen Künstler noch im Theaterzelt am Burgplatz in der Landeshauptstadt erleben.
Michael S. Zerban