O-Ton

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Düsseldorf-Festival 2022

Brutal blank

MERCY SEAT – WINTERREISE
(Franz Schubert, Nick Cave)

Besuch am
26. September 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Düsseldorf-Festival, Theaterzelt, Düsseldorf

Wenn das Düsseldorf-Festival eines gezeigt hat, ist es der Umstand, dass die Theatermacher nicht länger mit ihrer Mär davonkommen, dass Publikum bleibe wegen seiner Angst vor Corona aus. Selbst an einem Montag, dem letzten Tag des Festivals, ist das Theaterzelt in der Düsseldorfer Altstadt trotz Dauerregens am Abend nahezu voll besetzt. Auf dem Programm steht die Winterreise von Franz Schubert, die zwar als „Gipfel der abendländischen Liedkunst“ gilt, aber schon lange kein Grund mehr für ein übersteigertes Publikumsinteresse ist. Interessanter ist dann möglicherweise schon, dass ein ehemaliger Polizeiruf-110-Kommissar den Lieder-Zyklus interpretieren will. Spätestens seit Manfred Krug und Charles Brauer im Tatort ist ja bekannt, dass solche Menschen auch musizieren können oder zumindest wollen. Charly Hübner, von 2010 bis 2022 in der Krimireihe der ARD Kommissar in Rostock, bestreitet allerdings heftig, singen zu können. Und das glaubt man ihm aufs Wort. Wenn allerdings ein solcher Widerspruch schon ausreicht, die Menschen scharenweise ins Theaterzelt strömen zu lassen, wird die Frage umso spannender, wie lange die Betreiber steuerlich subventionierter Kulturinstitutionen noch auf ihren eingefahrenen Gleisen verharren wollen. Nebenbei sei erwähnt, dass es sich bei Mercy Seat – Winterreise nicht einmal um ein besonders neues Stück handelt.

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Vor fünf Jahren fragten die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern Hübner an, ob er nicht ein Klassik-Projekt für sie machen wolle, Vorgaben gebe es nicht. Schnell eine Lesung rauszuhauen, war des Schauspielers Sache nicht, also rief er Tobias Rempe, Künstlerischer Leiter des Ensembles Resonanz, an, um ihn zu einem Brainstorming einzuladen. In einem ersten Gespräch kamen die beiden schnell überein, Nick Cave und Franz Schubert in Form einer Séance in Dialog zu bringen. Der Komponist Tobias Schwenke wurde ins Boot geholt, um die beiden Musikstile stimmig zu arrangieren und sie in Einklang mit Hübners Stimmlage zu bringen. Dass das zu einer Verdichtung der Stoffe führte, war zwangsläufig und gewollt.

Nun also sitzen die Zuschauer dichtgedrängt im Theaterzelt, ziemlich ahnungslos, was sie erwartet, und blicken auf eine Bühne, auf der Platz für ein Orchester, ein Jazz-Trio und eben Charly Hübner ist. Der tritt aus dem Dunkel heraus – und sorgt erst mal für Schrecken. Nein, nicht der eigenwillig geschneiderte Anzug, der bis zum Schluss keine Sympathien wecken will, ist der Anlass. Sondern der kahlgeschorene Schädel des Schauspielers. Sofern nicht politisch oder „modisch“ motiviert, gibt es ja durchaus schreckliche Assoziationen, wenn jemand plötzlich seine Haare verliert. Da ist nur zu hoffen, dass eine seiner Rollen ihn zur Rasur gezwungen hat. Die unbändige Kraft im Auftritt wird allerdings schnell jeden Gedanken an eine Erkrankung vergessen machen.

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Schwenke hat eine fantastische Arbeit geleistet. Einerseits ermöglicht er dem Ensemble Resonanz genügend Freiraum für die künstlerische Entfaltung, schreibt Max Andrzejewski am Schlagzeug, Kalle Kalima an der E-Gitarre und dem Kontrabassisten Carlos Bica feine Soli in die Noten, andererseits schmiegt sich die Musik förmlich an die Stimme Hübners an. Die zeigt eine überraschende Bandbreite mit ungewöhnlicher hoher Modulationsfähigkeit und ordnet sich irgendwo zwischen Tom Waits und Leonard Cohen ein. Ein Gaumenschmaus mit Biss.

Für Puristen und Schubert-Liebhaber ist der Abend nichts. Dafür sorgt auch der Clou, der Winterreise das Stück Mercy Seat – Gnadenstuhl – von Nick Cave voranzustellen, in dem sich ein Mörder auf den Gang zur Hinrichtung vorbereitet. Da wird plötzlich aus der romantischen Wanderung ein veritabler Kriminalfall. Dass der seine Spannung bis zum Schluss hält, ist allen Beteiligten zu verdanken. Auch hier begeistert Hübner. Er ist der Mann am Mikrofon, aber er bleibt der primus inter pares. Wenn er sich in den Hintergrund setzt, um den solistischen Vorträgen zu lauschen, hat das Größe. Mit der Zugabe von Where the Wild Roses Grow geht ein eindrucksvoller Abend und damit auch das Düsseldorf-Festival mit einem glänzenden Finale zu Ende.

Die Planungen für das Düsseldorf-Festival im September 2023 laufen bereits. Dann hoffentlich wieder mit einem Programmheft, das fehlerfrei informieren statt ideologisch belehren will. Oxenfort und Dahmen jedenfalls versprechen, mindestens auf dem hohen Niveau des diesjährigen Festivals unterhalten zu wollen. In der Landeshauptstadt geht es derweil mit dem nächsten Festival weiter. Am 30. September beginnt das Internationale Düsseldorfer Orgelfestival.

Michael S. Zerban