O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Das Landesjugendorchester NRW verreist

Mehr als eine Probe

Die letzte Probe vor drei aufeinanderfolgenden Konzerten, abgesehen von den Anspielproben. findet noch in Amiens statt. Aber es ist mehr als eine Probe. Denn die Jugendlichen des Landesjugendorchesters NRW sollen so viel wie möglich über das Orchesterleben lernen. Am Ende des Arbeitstages werden einige der Musiker noch viel über sich selbst erfahren.

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Herrlich. Allmählich erreichen die Temperaturen sommerlichen Charakter. Und damit steigt auch die Laune der jungen Musiker, die sich am frühen Morgen durch die halbe Stadt fahren lassen, um in das Probenzentrum der Harmonie St. Pierre d’Amiens zu kommen. Nur Rita Menke fehlt. Die Orchestermanagerin, die doch eigentlich hier im Kreise der Jugendlichen so etwas wie ihren persönlichen Abschied feiern will, ist über Nacht erkrankt und muss auf dem Zimmer bleiben. Das Orchester der Stadt hat dem Landesjugendorchester den bunkerähnlichen Raum freundlicherweise kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Akustik wirkt gruselig. Kalt, abweisend, unbarmherzig. Für Sebastian Tewinkel genau das Richtige. Als Kind hat er seine Liebe zur Geige entdeckt. War selbst beim Landesjugendorchester NRW, bevor er sich für ein Pharmazie-Studium entschied. Aber irgendwie war es dann doch nicht das Richtige. Später wird er davon erzählen, wie er sich für ein Dirigierstudium entschied. Inzwischen ist er der künstlerische Leiter des Orchesters. Allmählich werden die Stimmen lauter, die eine Frau am Pult fordern. Von den Musikern hört man das nicht. Denn Tewinkel, der nicht nur eine Professur für das Dirigieren innehat, sondern auch das Bayerische Landesjugendorchester dirigiert, hat zu „seinen“ Jugendlichen so etwas wie eine magische Verbindung aufgebaut.

Der „Stallgeruch“ des Dirigenten ist das eine, wichtiger aber ist, dass er den jungen Musikern mit Respekt begegnet. Man ist per du, und das wirkt vollkommen selbstverständlich, weil die die Jugendlichen ihn als primus inter pares und Lehrer im besten Sinn akzeptieren. Nein, hier gibt es kein Machtgefälle, hier herrscht Vertrauen pur. Es bereitet Spaß, den Jugendlichen und ihrem Dirigenten bei der Arbeit zuzuschauen. Tewinkel verzichtet vollständig auf Belehrungen. Er bittet die Jugendlichen, eine Stelle mal etwas anders auszuprobieren, fragt auch schon mal nach Problemlösungsvorschlägen der Musiker. So dürfen die jungen Leute sich wertgeschätzt fühlen und murren auch nicht, wenn dieselben Takte drei Mal wiederholt werden. Derweil treiben den Dirigenten die Gedanken an die geplanten Auftrittsorte um: drei überdimensionierte, historische Kirchengebäude. Da sind die Tücken der Akustik vorauszusehen. Ohne die Instrumentalisten zu verunsichern, versucht Tewinkel schon einmal Lösungen zu finden, wie er mit Hall und akustischer Verzögerung umgehen kann. So verfliegen die Stunden bis zur Mittagspause.

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Wie hält man Pubertiere bei Laune? Man füttert sie mit Pizza. Berge von Schachteln mit Margerita-Pizzen, die mit Oliven verziert sind, werden an die hungrigen Jugendlichen ausgegeben. Es gibt keine Reste, dafür aber Musiker, die sich anschließend in die Sonne legen und dösen, bis die Pause vorüber ist. Gut, einige der Jungs haben für so etwas keine Zeit. Die müssen sich mit Handy-Spielen beschäftigen. Ein seltsamer Kontrast. Hochkonzentriert arbeiten die Heranwachsenden daran, ihre Kenntnisse der klassischen Musik immer weiter zu verfeinern, aber in der Pause wird gedaddelt. So wie auf den Schulhöfen der Republik kommt auch hier niemand auf die Idee, ein Buch zur Hand zu nehmen. Da fragt man sich schon, was eigentlich Lehrer in Deutschland leisten.

Den Lehrer lässt Tewinkel auch nach der Pause nicht heraushängen. Sondern versucht vielmehr, die jungen Leute ins Gespräch zu ziehen. Das Thema beschäftigt nicht nur ihn, sondern auch den Verein der Landesjugendensembles. Denn tatsächlich verbringen die Musiker einen großen, um nicht zu sagen, überwiegenden Teil ihrer Kindheit und Jugend mit dem Erlernen eines Instruments bis nahe an die Perfektion, um dann nach dem Schulabschluss zu entscheiden, dass das ein nettes Hobby war und sie nun etwas „Richtiges“ studieren wollen. Die wenigsten entscheiden sich, eine Karriere als Berufsmusiker anzustreben. Da hat offenbar auch die Erfahrung des Landesjugendorchesters keinen großen Einfluss, obwohl die Jugendlichen immer wieder erzählen, wie großartig ihnen die Zeit beim Orchester gefallen hat, welch wunderbare Freundschaften hier entstanden sind und wie wichtig es ihnen ist, dass sich hier Netzwerke bilden.

Tewinkel berichtet einleitend über seinen eigenen Werdegang, erzählt ein bisschen über die Verdienstmöglichkeiten des Berufsmusikers, gibt aber schnell die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Das Ergebnis ist überraschend. Im Wesentlichen werden Fragen nach der Höhe von Gehältern laut. Ein schiefes Bild, was da entsteht, denn in den nächsten Tagen werden Tewinkel und Rychlinski erleben, dass die Musiker das persönliche Gespräch suchen, um Fragen nach Entwicklungsmöglichkeiten, weiteren Schritten und realistischen Karriere-Erwartungen zu stellen. So wird der Impuls, den der Dirigent hier gesetzt hat, in aller Stille ein Erfolg. Und noch etwas lernen die Orchestermitglieder am Nachmittag.

Der Dirigent hält einen kleinen Vortrag über das Dirigieren. Zeigt ein paar Grundzüge, die die Musiker auch einüben sollen. Denn anschließend werden einige von ihnen auf das Pult gebeten, um mit den erlernten Gesten und ein wenig Fantasie das Orchester zu dirigieren. Hier, im geschützten Raum, sollte das weniger ein Problem sein, als vielmehr Spaß bedeuten. Tewinkel unterlässt bewusst jede weitere Hilfestellung, setzt sich mit der Geige in die Reihen des Orchesters. Die Freiwilligen, die auf das Podest steigen, erleben durch die Bank weg etwas anderes als die Freude, andere Menschen zum gemeinsamen Spiel anzuleiten. Sie spüren plötzlich die Macht, die der Dirigent, wenn auch nur scheinbar, über das Orchester hat. Die Orchestermitglieder unterstützen das noch, indem sie spaßeshalber zwischenzeitlich das spielen, was der Kollege da oben anzeigt. Das Ergebnis klingt natürlich eher nach Katzenmusik, aber keiner, der wieder zur Erde hinabsteigt, hat sich dem Machtgefühl entziehen können. Eine hochinteressante Erfahrung, die vor dem Hintergrund, dass auch in diesem Kreis der Dirigent aus Köln, der seine Macht missbraucht hat und endlich aufgeflogen ist, Gesprächsthema ist. Vielleicht hätte man die Freiwilligen nach ihrem Dirigat noch choram publico nach ihren Eindrücken befragen können, um auch die anderen an diesem eigenartigen Gefühl teilhaben zu lassen. Aber Tewinkel verzichtet darauf. Und so bleibt es beim Spektakel zum Abschluss eines doch recht anstrengenden Arbeitstages.

Rasch sind die Instrumente verpackt und in den beiden Bussen verstaut, mit denen es in die Jugendherberge zurückgeht. Ab jetzt ist Freizeit, und viele nutzen die Gelegenheit noch einmal, um in Gruppen das Zentrum von Amiens zu erobern. Was sonst noch alles in der Nacht passiert, darüber breiten die Betreuer Simon Dornseifer, Louis Steinbronn, Amelie Papke, Henrike Witte und FSJ-lerin Viktoria Jakimowicz den gnädigen Mantel des Schweigens. Immerhin wird später von der Jugendherbergsleitung zu hören sein, dass man selten eine so disziplinierte Jugendgruppe erlebt habe.

Michael S. Zerban

Mehr Eindrücke von der Reise gibt es hier in der Bildergalerie.