O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Clube da Encruza - Foto © O-Ton

Moers-Festival 2019

Unternehmen Festival

STRENGT EUCH AN, TAG 1
(Tim Isfort et al.)

Besuch am
7. Juni 2019
(Verschiedene Aufführungen)

 

Moers-Festival, Festivalhalle, Festivaldorf

Es gibt wohl kaum etwas Anspruchsvolleres in der Musikwelt, als ein funktionierendes Festival auf die Beine zu stellen, egal, welcher Couleur. In Moers, mit mehr als 100.000 Einwohnern die größte Stadt Deutschlands, die weder kreisfrei noch Sitz eines Kreises ist, gelingt das seit fast 50 Jahren. Mit über 130 Aufführungen aus 25 Ländern in vier Tagen hat das Moers-Festival eine Komplexität erreicht, der man als – ungeübter – Besucher kaum Herr werden kann. Tim Isfort, seit 2017 Künstlerischer Leiter des Festivals, sieht darin mehr Chance als Nachteil. Man könne sich hier auf eine Entdeckungsreise begeben, und so entstehe für jeden sein eigenes Festival, ist seine Devise. Und so kann ein Bericht von diesem Festival immer nur ein willkürlicher Ausschnitt sein, der zudem in großen Teilen vom Zufall bestimmt ist.

Eine echte Vorbereitung will nicht gelingen. Denn der Anspruch des Festivals, noch anders, bunter, vielfältiger und origineller zu sein, führt zu einem unübersichtlichen Internetauftritt. Und die Idee, das Programmheft als Produktkatalog eines Unternehmens zu gestalten, bewirkt eine Unmenge an Text, aber auch einen Verlust an substanzieller Information. Also heißt es für den Besucher, sich auf ein Abenteuer einzulassen, an dessen Ende dann tatsächlich die Höhepunkte herauskommen sollen, die er sich erhofft.

Thiago França – Foto © O-Ton

Der erste Festival-Abend beginnt so, wie man sich das als Ortsfremder am Niederrhein vorstellt: Regnerisch und kühl. Wenigstens gibt es keine Mückenplage im so genannten Festivaldorf, das auf dem Vorplatz der Festivalhalle aufgebaut ist, aus einer Unmenge von Fressbuden und einer Außenbühne besteht und nach Angaben des Veranstalters etwa 20 Minuten fußläufig vom Stadtzentrum entfernt ist. Die Festivalhalle hat mit Sicherheit schon bessere Zeiten gesehen. Nach Taschenkontrolle betritt man das Foyer, in dem unter dem Dach ein Zettelbaum aufgehängt ist. Im Hintergrund eine alte Bekannte. Die Schablone des Rehkitzes, die für die Aufführung von Giuseppe Verdis Don Carlos vom Landesjugendorchester NRW unter anderem im Kulturhaus Lüdenscheid verwendet wurde. Die dient jetzt als öffentliches Meinungsforum, auf dem die Besucher Zeichnungen und Kommentare hinterlassen. Es wird nicht die einzige Wiederbegegnung des Abends bleiben, auf jeden Fall aber die angenehmere.

Marshall Allen – Foto © O-Ton

In der Halle selbst ist vor Kopf eine Bühne aufgebaut. Links und rechts davon erheben sich Tribünen, davor sind bunte Teppiche ausgelegt, auf die sich die Besucher setzen können. Der Raum ist mit soldiers of fortune, also Glückssoldaten, geschmückt, Plastikpuppen, die ein T-Shirt mit entsprechender Aufschrift tragen. Ihnen gegenüber ist im Hintergrund ein Bühnenrequisit aufgebaut, das sofort für lautstarken Protest sorgt. Der hölzerne Panzer-Nachbau aus eben jener Don-Carlos-Inszenierung, der hier im völlig anderen Zusammenhang eher abstoßend wirkt. Das führt so weit, dass sich Isfort im weiteren Verlauf des Abends zu einem Statement genötigt sieht. Der Besucher solle sich Gedanken über den Panzer machen, wie man sich überhaupt die künstlerische Auseinandersetzung in den kommenden Tagen wünsche. Die Besucher sind mit dieser Einlassung nicht zufrieden, zumal der Panzer im späteren Verlauf des Abends sein Rohr auch noch auf das Publikum richtet. Will man hier gemeinsam friedlich feiern oder sich einer Bedrohungssituation ausgesetzt sehen? Das Unwohlsein bleibt.

Bex Burch am Gyil – Foto © O-Ton

Zum Auftakt spielen Marshall Allen und Band. Allen ist ein 85-jähriger Altsaxophonist des Avantgarde- und Free Jazz. Am Schlagzeug wird er von Günther Baby Sommer unterstützt, die elektronische Musik übernimmt Toshimaru Nakamura. Im Vordergrund steht die Erzählung von Rodrigo Brandão, die weder verständlich noch irgendwo aufgeschrieben ist, aber sehr engagiert vorgetragen wird. Und so gibt es zum Abschluss viel Applaus für den Wort-Musik-Klang. Anschließend geht es zur Außenbühne im Festivaldorf. Im Programmheft ist von einem Toaster die Rede. Stattdessen treten drei junge Leute auf, die sich den Namen Vula Viel gegeben haben, was so viel wie Gott ist gut bedeutet. Im Mittelpunkt ihres Auftritts steht das Gyil, ein ghanaisches Xylophon, das Bex Burch selbst entwickelt hat. Ihr zur Seite stehen die Bassistin Ruth Goller und Schlagzeuger Jim Hart. Beeinflusst wird ihre Musik maßgeblich von Steve Reich. Und so sind im Regen recht minimalistische Klangfolgen zu hören. Erfreulich, dass sich trotzdem eine ganze Reihe von Leuten eingefunden haben, die die Bühne unter dem Zeltdach eng umschließen und die Musiker mit ihrem Applaus umarmen.

Zurück in der Festivalhalle, gibt es einen echten Höhepunkt. Es geht nach São Paulo. Clube de Encruza nennt sich das Projekt, das sich im Zuge der Bewegung méta méta gefunden hat. Die Musiker haben sich vernetzt und treten in allen nur erdenklichen Kombinationen auf. Am heutigen Abend finden die Brasilianer zu einem gemeinsamen Auftritt, um mit rauer Poetik und flottem Samba-Rhythmus, verquickt mit Jazz-Einflüssen, das Publikum aufzumischen, das sich wieder zahlreich in der Halle versammelt hat. Den Hauptgesang übernimmt Juçara Marçal, die von den Instrumentalisten in Duetten oder eigenen Songs unterstützt wird. Besonders tritt hier Gitarrist Kiko Dinucci in Erscheinung. Umjubelt wird Thiago França, der dem Abend an Saxofon und Querflöte eine besondere Note verleiht und später noch in einem Solo-Auftritt in einer Kirche zu erleben sein wird.

Das Festival geht weiter, am Abend, in der Nacht. Und am nächsten Tag wird durchgestartet. Am Ende des Konzerts von Clube de Encruza hat sich das Festivaldorf gefüllt. Am Ende eines verhalten begonnenen Abends steht also eine Perspektive. Wer aus der Ferne einen Blick auf das Festival riskieren möchte, hat dazu in der Mediathek von Arte Concert Gelegenheit. Und für Smartphone-Fans gibt es eine eigene App, in der Neuigkeiten – also auch Programmänderungen – nachzulesen, die Spielorte auf einer Karte aufgeführt und aktuelle Programmpunkte gelistet sind.

Michael S. Zerban