O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Kunststücke

Ein anderer Ausstellungsbesuch

Die Skulptur als Gegenstand, der Kontemplation auslöst. Schwer vorstellbar, aber eine künstlerische Aufgabe, der sich Antony Gormley und Wilhelm Lehmbruck gewidmet haben. Beide trennt fast ein Jahrhundert. In der Ausstellung Gormley/Lehmbruck: Calling on the Body soll der Dialog erkennbar werden. Einfacher wird das, wenn man vorher den Katalog kennt.

Foto © Antony Gormley

Der Besuch von Kunstausstellungen läuft in der Regel nach einem immer gleichen Muster ab. Motiviert und inspiriert durch Empfehlungen von Freunden und Bekannten, durch Informationen aus den einschlägigen Medien, entwickelt sich der Gang durch die Ausstellung zu einem Schauen in eine durch bildkünstlerische, grafische oder skulpturale Reflexionen dargestellte Welt.

Ein sich im besten Fall gelassenes Treibenlassen von Werk zu Werk. An manchen schulterzuckend vorbeigehen. Vor anderen sich angezogen fühlen, länger verweilen, genauer hinschauen, in einen einsamen inneren oder mit einer Begleitung geteilten Dialog über das Gesehene, das Wahrgenommene eintauchen. Ein bis hierher noch nicht gestilltes Interesse kann mit dem Kauf eines Katalogs in der Hoffnung eingelöst werden, noch mehr über kunstgeschichtliche, historische, auch biografische Hintergründe zu erfahren.

Beim Besuch der aktuellen Ausstellung Gormley/Lehmbruck: Calling on the Body im Lehmbruck-Museum Duisburg empfiehlt sich eine erweiterte Planung. Fast könnte man geneigt sein zu sagen, wer die Ausstellung besucht, ohne den Katalog – insbesondere das Gespräch von Antony Gormley mit Tobias Haberl – gelesen zu haben, versäumt wahrscheinlich Wesentliches, das diese Ausstellung zu einer besonderen macht. Deshalb diese Empfehlung: Die Ausstellung anschauen, den Katalog lesen – und noch einmal in die Ausstellung gehen.

Gormleys Gedanken, eben dort nachzulesen, zur Pandemie, ihren Nöten und Gefährdungen, aber auch ihren mitunter leichtfertig vertanen Chancen, bei sich zu bleiben, einfach zu sein. Ein Lob der Kraft des Wartens, des Nachdenkens. Kunst, so seine Auffassung als Möglichkeit, „genauer hinzuschauen, und zwar sowohl auf die Welt als auch auf uns selbst, um zum Kern der Dinge vordringen zu können“, bietet eine unglaubliche Vielfalt von interaktiven Selbstwahrnehmungen.

Tief beeindruckt von buddhistischen Meditationserfahrungen in seinen jungen Jahren in Indien, geben Gormleys Werke, seine dem eigenen Körper entlehnten skulpturalen Formen, seine Workbooks, seine grafischen Reflexionen als auch seine Modellarrangements „Hinweise auf eingefangene Momente gelebter Zeit … als Orte des Fühlens und Betrachtens für den Betrachtenden …“.

Gormleys Argumentationen, Reflexionen und Narrationen besitzen eine beeindruckende philosophische Tiefe. Dabei sind sie keine intellektuelle Bildungshuberei. Sie sind vielmehr getragen von einer verblüffenden Überzeugungskraft. Sie geben Auskunft, wie er mit seinen Arbeiten auf die Welt und die Menschen mit unangestrengter Selbstverständlichkeit schaut.

Seine reflexiven Beobachtungen im Alltag – „Der Mensch ist ein unfertiges Produkt“ – sein Gefühl, dass wir dabei sind, „die Unschuld und echte Verbundenheit zu verlieren“, sind fundamentale Ausgangspunkte, die Gormleys Arbeit bestimmen und gleichzeitig dem Ausstellungsbesucher wesentliche Orientierung geben können.

Die Ausstellung Gormley/Lehmbruck. Calling on the Body inszeniert einen stillen Dialog über 100 Jahre zwischen Wilhelm Lehmbruck und Antony Gormley. Nichts weniger, als diesem nachzuspüren, beansprucht die Ausstellung für sich. Nicht nur, dass Lehmbrucks Werk für Gormley eine große Inspiration ist. Gleichzeitig steigert sich in dieser Gegenüberstellung auch eine außergewöhnlich spannungsreiche, gleichermaßen neue Wahrnehmung von Lehmbrucks Werk selbst.

Beide Künstler – Lehmbruck, zu Beginn Teil der Avantgarde nach 1900, Gromley in der späteren Moderne am Ausgang des 20.Jahrhunderts – stellen den Körper als etwas existenziell Menschliches ins Zentrum ihrer Arbeiten: „Was ist der Mensch?“ Das allerdings mit unterschiedlichen Konnotationen. Lehmbruck (er)findet in der überlängten Figur Ausdrucksformen tragischer bis melancholischer Innerlichkeit. Gormley macht den eigenen Körper zum „Erfahrungs- und Existenzmittelpunkt“ seiner Arbeiten, sagt Jon Wood.

Bei Gormley wird die Form zur performance-orientierten Skulptur. Der Körper in seiner physischen und emotionalen Wirkungsmächtigkeit rekurriert eine im Kontext von Ludwig Wittgensteins im Tractatus logico-philosophicus formulierte Conditio sine qua non, dass „die Welt alles sei, was der Fall ist“. Auf Gormleys bildhauerisches Werk angewendet, wäre der Körper mehr, als was der Fall ist: Calling on the Body. Die tonnenschweren, körperstilisierenden Betonblöcke wie Alloment II, 1996, besetzen den Ausstellungsraum in klaustrophobischer Präsenz. Ein elegant erhabenes Durchschreiten ist kaum möglich. Die unmittelbare Erfahrung, auf den eigenen Körper zurückgeworfen zu sein, bemächtigt sich des Besuchers.

Gormleys Beschäftigung mit dem Körper vor Ort artikuliert sich als „Gemeinschaft stiftende fantasievolle Objekte“, stellt Söke Dinkla fest. Einerseits als skulpturale Landmarken: Another Place aus dem Jahr 1997 im Kontext von Zeit und Raum als permanente Installation an der Crosby Beach oder als moderner Totem Angel of he North, 1998, in Gateshead über einem ehemaligen Bergwerkschacht. Andererseits in der Ausstellung in der Glashalle des Lehmbruck-Museums Spread, 1984, in Nachbarschaft zu Insider II, 1997, ist Gormleys Arbeiten immanent, das unbewusst Verborgene menschlicher Existenz offenzulegen. Unter der Hand wird eine interessante Brücke zu der Ausstellung Mondrian. Evolution in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf geschlagen.

Noch einmal zurück zum drucktechnisch aufwändig gestalteten Katalog: Das fotografische Faksimile auf dem leinenen Einband mit Der Gestürzte und Sum formuliert, grafisch konzentriert, die dialogische Konzeption dieser Ausstellung: Der Körper, der Mensch, Ich. Sehen, wahrnehmen und lesen – nachdenken über die Welt.

Peter E. Rytz