O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Anne Schäfer

Schumannfest 2022

Aus ganz persönlichen Beweggründen

WIEGENLIEDER
(Diverse Komponisten)

Besuch am
26. Juni 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Schumannfest 2022 in der Tonhalle, Düsseldorf

Gestern Abend gab sie als Einspringerin noch ihr Debüt als Sklavin Liù in Giacomo Puccinis Turandot in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin, heute Abend beschließt sie das Schumannfest in Düsseldorf mit einem ganz anderen Thema. Seit anderthalb Jahren ist Olga Peretyatko Mutter von Maya. Wohl das beste denkbare Motiv, ein Album mit Wiegenliedern zusammenzustellen. Die Idee dazu hatte ihr Professor, bei dem sie Gesang an der „Hanns Eisler“ studiert hat, Semjon Skigin, der dann für die Einspielung auch ihr Klavierbegleiter wurde und mit ihr die Aufführung bestreitet. Ein Glücksfall, wie sich herausstellen wird.

Obwohl jeder in seinem Leben, wenn es gut läuft, einmal mit Wiegenliedern in Berührung kommt und diese womöglich einen gut Teil zum Entstehen des Urvertrauens beitragen, scheint das Interesse daran bis zur eigenen Elternschaft nachhaltig zu erlöschen. Heute Abend jedenfalls scheint ziemlich klar, dass die Besucher nicht wegen der musikalischen Inhalte gekommen sind, sondern um Olga Peretyatko zu erleben. Die richtige Entscheidung. Denn, um das Fazit vorwegzunehmen: Die „Wiegenlieder“, die die Sängerin heute Abend zu Gehör bringt, werden ernsthaft kaum je einen Säugling in den Schlaf gebracht haben. Dafür spricht schon der Auftritt in pastellfarbener, später glutroter Abendrobe. Da ist wohl eher die Amme zuständig, den Kindern ein einschläferndes Lied zu singen, während die Mama zur Abendunterhaltung eilt. Aber es gibt sie, die Kunstlieder. Zum Beispiel von Hugo Wolf das Wiegenlied im Sommer aus den Sechs Liedern für eine Frauenstimme. Damit eröffnet Peretyatko den Abend, nicht ohne vorher die Besucher begrüßt und ihnen kurz erklärt zu haben, wie wichtig Wiegenlieder sind, um den Kindern das beizubringen, was in ihrem Leben wichtig sein sollte: Frieden, Freude und Gesundheit. So zieht jemand mit wenigen Sätzen das Publikum auf seine Seite. Die Senkrechtstarterin aus St. Petersburg scheint sich verändert zu haben. Sehr gut ist sie in Erinnerung als sympathische, aber typische Opernsängerin, die sich dem Konzertbetrieb vollkommen angepasst und ihren Auftritt dementsprechend gestaltet hat. Sie hatte es „geschafft“. Heute wirkt sie sehr viel nahbarer, souveräner, aber auch dankbarer. Daraus schöpft sie Esprit, der den Liederabend zu einem unvergesslichen Erlebnis münzt. Nach Robert Schumanns Sandmann aus dem Liederalbum für die Jugend lässt sie es sich nicht nehmen, Wolfgang Amadeus Mozarts Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein mit den Worten zu kommentieren, dass die zweite Strophe eher für die Erwachsenen gedacht sei. „Nur in der Zofe Gemach tönet ein schmelzendes ‚Ach‘. Was für ein ‚Ach‘ mag dies sein?“ klingt in der Tat nicht danach, als sei es für Kinderohren bestimmt. Überhaupt ist das Lied, dessen Text Friedrich Wilhelm Gotte verfasst hat, eigentlich eher eine Spötterei über hochwohlgeborene Kinder denn ein echtes Wiegenlied. Da trifft es Felix Mendelssohn Bartholdy mit seinem Bei der Wiege schon eher.

Es ist schon erstaunlich, wer alles in der Romantik so Lieder für die Wiege komponiert hat. Das stellt auch Skigin fest, wenn er eine Anekdote über Richard Wagner zum Besten gibt, nachdem Peretyatko Dors, mon enfant – also: Schlafe, mein Kind – von Wagner vorgestellt hat. Der Professor erzählt von der Zeit, als Wagner in Paris aus seiner Wohnung flog, weil er die Miete nicht zahlen konnte. In seiner neuen Unterkunft, einer Pension, fällt sein Blick auf schwarze Schwäne in den Tuilerien. „Andere ohne Geld, die schwarze Schwäne sehen, sind auch traurig, aber schreiben selten so schöne Werke darüber“, resümiert Skigin und bringt das Instrumentalwerk Ankunft bei den schwarzen Schwänen bravourös zu Gehör. Recht hat er. Und schließt gleich Antonín Dvořáks Dobrú noc, má mila an. Danach kehrt Peretyatko auf die Bühne zurück und intoniert zwei Lieder von Peter Tschaikowsky und Sergej Rachmaninov, von denen letzteres eher nach einem dramatischen Abschiedslied als nach der traulichen Situation am Kinderbett klingt.

Foto © Anne Schäfer

Nein, hier braucht niemand Angst vor überzogener Süßlichkeit zu haben. Auch dann nicht, wenn Peretyatko spaßhaft nach der Pause ankündigt: „Wir gehen in unserer Reise noch südlicher, wo die Kinder ganz anders einschlafen.“ Der nächste Block mit Liedern von Charles Gounod, Francesco Paolo Tosti und Manuel de Falla verfliegt in den Ohren der Hörer und endet mit Giacomo Puccinis E l’uccellino glanzvoll.

Danach biedert sich Skigin an. Ja, man wolle eigentlich ein Programm schaffen, das nur die beiden Komponistinnen in den Vordergrund stelle, um deren Leistung zu würdigen. Gemeint sind Clara Schumann und Pauline Viardot-García. Ach, bitte. Das Notturno von Schumann ist gute Unterhaltungsmusik, und sie ist ja auch zu diesem Zweck geschrieben worden: Um in den Salons zu unterhalten. Je viens te rendre à l’espérance von Viardot-García klingt eher nach einer hochdramatischen Arie als nach einem Wiegenlied. Und ihre Mazurka klingt kräftig und mit männlichem Impetus. Und nun? Hoffentlich sind die Zeiten bald vorüber, in denen das Geschlecht plötzlich wichtiger als die Qualität der Musik sein soll.

Anschließend geht es in das 20. Jahrhundert. Und ab nach Brasilien. Von Cláudio Santoro stammt das Lied Luar do meu bem, was man in etwa mit Mein guter Mondschein übersetzen könnte. Peretyatko lässt es mindestens ebenso schön erklingen wie Altino Pimentas Estrela. Das Ende des eigentlichen Programms ist eine sehr eigene Intonation von Summertime aus Porgy and Bess von George Gershwin. Hush, little baby: Ja, es ist ein Wiegenlied, das Peretyatko hier mit Gänsehautcharakter vorträgt.

Und dann schließt sich der Kreis, wenn sie das Publikum mit der Arie Signore, ascolta aus Turandot andächtig staunen lässt und anschließend die Arie vorträgt, mit der sie bei ihrer Aufnahmeprüfung 2001 an der Berliner Musikhochschule ihren Professor überzeugte. Ihre Stimme klingt gereifter, ohne dass sie auch nur im Mindesten an Qualität eingebüßt hätte. Die Höhen werden mühelos erklommen, ehe sie blitzschnell in der Mittellage großartige Leistungen erbringt, in gekonnten Koloraturen in schier endlose Tremoli verfällt. An Größe hat sie nichts verloren, aber an Menschlichkeit viel gewonnen. Brava, Olga Peretyatko.

Mit einem wunderbaren Abend schließt das Schumannfest 2022 allmählich seine Pforten. Wie es sich für ein Festival dieser Größenordnung gehört, gab es Höhen und Tiefen. Der Anspruch, „Kunst total“ bieten zu wollen, war ein ehrenvolles Experiment, das nun auch weiterentwickelt werden sollte. Es gab ausreichend Anlässe, darüber nachzudenken, wo in Zukunft an den Stellschrauben gedreht werden kann. Dass das Publikum dem Zusammenschweißen verschiedener Genres adhoc nicht folgen wollte, sollte kein Grund zur Entmutigung sein. Vielmehr könnte es hilfreich sein, über die „richtige Ansprache“ des Publikums auf allen möglichen Ebenen nachzudenken. Um im kommenden Jahr wieder mit möglichst vielen Menschen das Schumannfest erfolgreich zu begehen.

Michael S. Zerban